Auf vielen Branchen-Kongressen wird seit Jahren immer wieder ein Thema diskutiert: Wird die Digitalisierung neue Player hervorbringen, die die Versicherungsbranche disruptiv umkrempeln, so wie es der Musikindustrie mit iTunes oder Spotify ergangen ist?
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Johannes Goth – Vorstand Deutsche Anwaltshotline AG
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Auch im Rechtsschutz sorgt sich so mancher Entscheider, dass bald niemand mehr eine Police abschließen wird, wenn jeder Verbraucher über Flightright & Co seine Rechtsprobleme „kostenlos“ lösen kann.
Fakt ist: Die Verbraucher suchen in der Tat vermehrt im Internet nach der Lösung ihrer Rechtsprobleme. Wo noch vor 10 Jahren gleich der Anwalt kontaktiert wurde, ist nun Google die erste Anlaufstelle. Die Praxis zeigt jedoch: Legal Tech Geschäftsmodelle funktionieren derzeit nur in Nischen, und meist auch nur dann, wenn es um den Anspruch auf eine Geldforderung geht. Ist der Kunde jedoch selbst der Beklagte oder geht es etwa um einen Mängelbeseitigungsanspruch, kann kein Legal Tech helfen.
Legal Techs: Den Möglichkeiten sind Grenzen gesetzt
Und wenn sich das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht grundlegend ändert, wird das auch so bleiben. Damit sind die RSV als Anlaufstelle zur „Lösung von Rechtsproblemen aller Art mit allen notwendigen Mitteln“ durch die strikte Regulierung des Rechtsdienstleistungsmarktes gut vor neuen Wettbewerbern geschützt. Die Angebote der Legal Techs sind zumindest in ihrem Umfang und in ihrem Preis einfach nicht attraktiv genug. Die meisten Flugverspätungsportale nehmen im Erfolgsfall rund 30 Prozent. Dies sind bei einem verspäteten Mallorca-Flug eines Pärchens gerne mal 150 Euro für die Plattform. Dafür hätte das Paar schon ein halbes Jahr Vollrechtsschutz erhalten – und die anwaltliche Geltendmachung ihrer Flugentschädigung ohne Abzüge gleich dazu.
Zudem ist es für die Legal Techs kaum möglich, feste Kundenbeziehungen aufzubauen und damit dauerhafte Einnahmen zu generieren. Hat sich die Flugverspätung erledigt, verschwindet der Nutzer im Online-Nirvana und muss das nächste Mal teuer erneut auf Google geworben werden. Rechtsprobleme gegen eine Flatrate zu lösen (bzw. lösen zu lassen) ist nur den Rechtsschutzversicherern erlaubt – ein riesiger Wettbewerbsvorteil!
Der Angriff auf Rechtsschutz durch die Digitalisierung kam denn ja auch aus einer Ecke, die zunächst kaum einer im Blick hatte. Die neuen Claims-Fishing-Kanzleien im Legal-Tech-Gewand wollen gar nicht in Konkurrenz zum Rechtsschutz treten und diesem seine Kunden abwerben. Nein, sie haben gar ein vitales Interesse an einer möglichst dauerhaften Existenz der Branche und an vielen versicherten Haushalten. Denn das sind alles potentielle Premium-Mandanten, die sich nach der bundesweiten Akquise via Google prächtig in Umsatz umwandeln lassen. Die disruptive Bedrohung verwirklicht sich hier nicht durch ein digitales Ersetzen der Leistungen der Rechtsschutzversicherung, sondern durch ein digitales „Ausbeuten“ derselben. Durch das Instrument der Musterfeststellungsklage hat der Gesetzgeber in besten Absichten vermutlich sogar ein neues Massen-Claims-Fishing-Vehikel erschaffen.
Herr Kaiser lebt!
Und bei aller Online-Affinität der Verbraucher und trotz der steigenden Abschlüsse über den Online-Kanal auch bei Rechtsschutz gilt: „Herr Kaiser lebt!“ – so lautete die Überschrift im Finanzteil der WELT vom 12. August 2018. Die Rolle des menschlichen Vermittlers ist bei nahezu allen Versicherungssparten außer Kfz noch sehr dominant und wird es noch lange bleiben. Ulrich Wiesenewsky von Towers Watson bringt es in dem Beitrag auf den Punkt: „Online kaufen die Menschen, was sie von sich aus wollen, beim Berater, was er ihnen empfiehlt.“ Über digitale Kanäle sind am besten jene Policen zu vertreiben, von denen der Kunde glaubt, dass er sie braucht. Das erklärt den hohen Kfz-Anteil im Direktvertrieb, denn ohne Police kann niemand sein Auto zulassen.
Eine Rechtsschutzversicherung ist jedoch ein Produkt, für das bei vielen Menschen zumindest kein aktives Bedürfnis besteht – jedenfalls nicht, solange sie kein akutes Rechtsproblem haben. Und dann ist es für den Abschluss wegen der Wartezeit meist zu spät. Bei Online-Vergleichsportalen hingegen sieht es laut Andreas Heinsen, Vorstandsmitglied der Örag Rechtsschutzversicherungs-AG etwas anders aus: In der Ausgabe 11/19 der Versicherungswirtschaft erklärt er, dass Nutzer nicht selten spontan online nach einer Rechtsschutzversicherung suchen, wenn sich das Problem bereits anbahnt. Deutet sich beispielsweise an, dass der Vermieter Eigenbedarf anmelden will, genügen wenige Klicks, um auf Check24 und Co. die passende Police zu finden. Neukunden, die über Vergleichsportale gewonnen wurden, können daher schnell teuer werden.
Grundsätzlich haben die Deutschen aber ein großes Bedürfnis, ihre Rechte geschützt zu sehen. Daher kann der Berater durchaus das Grundbedürfnis nach Hilfe bei zukünftigen Rechtsproblemen in den Abschluss von Rechtsschutzverträgen ummünzen. Das kann aber eben auch nur ein menschlicher Berater, der seinen Kunden kennt und bei ihm am Tisch sitzt. Denn für die meisten Versicherungsarten ist Beratung nötig und Beratung bedeutet für den Kunden, dass er einen Ansprechpartner braucht, dem er vertraut. So erklärte es Generali-Deutschland Chef Giovanni Liverani gegenüber dem Handelsblatt und macht klar, warum mittlerweile sogar Sprachassistenten wie Alexa und Co. theoretisch Versicherungen verkaufen könnten, den menschlichen Berater aber (noch) nicht ersetzen können.
Die Erfahrung zeigt auch, dass Versicherte, die an einen Vermittler gebunden sind, ein deutlich erhöhtes Beharrungsvermögen in ihrer Vertragsbeziehung zum Rechtsschutz haben.
Ein weiterer Vorteil des menschlichen Beraters ist seine Möglichkeit zum Cross-Selling. Wer online Versicherungen abschließt, der schließt in der Regel nur diese eine ab, die er akut benötigt. Leistungsstarke und an die Zielgruppe angepasste Rundumpakete kann aber der persönliche Berater liefern, denn der kennt seine Kunden und weiß was sie benötigen. Vor allem in der im Rechtsschutz vernachlässigten Zielgruppe der jungen Erwachsenen liegt hier ein enormes Potenzial. Zur ersten eigenen Wohnung und der Hausratversicherung wird das Bündelpaket mit Rechtsschutz angeboten, zum Kfz-Antrag die passende Rechtsschutzanbindung geliefert etc. Und das punktgenau – denn der Versicherungsmakler weiß, wann die Mitversicherungsdeckung der Eltern für die Kinder wegfällt. Ein Legal Tech oder Online-Vergleichsportal hat dieses Wissen nicht, erklärt Heinsen in der Ausgabe 11/19 der Versicherungswirtschaft.
Zwischenfazit: Legal Techs mit all ihren digitalen Prozessen sind noch lange keine echte Bedrohung für die Rechtsschutzbranche. Der Zugriff auf menschliches Vertriebspersonal – egal ob AO oder Makler – ist auch weiterhin der Schlüssel für den Großteil des Neugeschäfts.
Der Kunde will mehr als reinen Kostenschutz
Aber – und hier kommt doch die Digitalisierung ins Spiel – der Kunde wird in Zukunft nicht mehr akzeptieren, dass er für 200 oder 300 Euro im Jahr „nur“ Kostenschutz erhält. Die heutigen Kunden haben durch Legal Techs gelernt, dass Rechtsprobleme einfach per Klick über das Internet oder eine App zu lösen sind. Und den Kunden wird nicht bewusst sein, dass Legal Techs ja nur die einfachen Fälle bespielen.
Die Legal Techs zeigen den Kunden, dass die Lösung von Rechtsproblemen einfach, schnell und in einem transparenten Ablauf funktioniert. Das muss zukünftig auch Rechtsschutz können – und der Vermittler muss es dem Kunden beim Verkaufsgespräch auf seinem Tablet auch zeigen können: „Schau mal, Ralph, hiermit fotografierst du dann einfach dein Knöllchen, und dann kümmert sich sofort ein Anwalt drum. Regelt alles die Versicherung für dich. Kost‘ dich so dann auch keine Selbstbeteiligung. Geil, oder?“
Einen ähnlichen Service bietet bereits das InsurTech Getsafe, bei dem Kunden innerhalb von Sekunden ihre Zahnarztrechnung erstattet bekommen.
Das Angebot von zeitgemäßen Lösungs-Tools verbessert nicht nur die zukünftigen Absatzchancen – in Verbindung mit App-Meldetarifen (SB-Erhöhung, falls Schaden nicht via App gemeldet wird), Steuerungstarifen (SB-Verzicht bei Folgen einer Anwaltsempfehlung) oder Vorbehaltstarifen (Eintrittspflicht erst nach erfolgter Chat- oder Telefon-Rechtsberatung) kann die Bedrohung durch das Claims-Fishing deutlich eingedämmt werden und die Schadenkosten können durch eine signifikante Verbesserung der Steuerungsquote klar gesenkt werden. All diese „digitalen Tarifvarianten“ sind rechtssicher gestaltbar.
Fazit:
Rechtsschutz ist durch neue, digitale Modelle zumindest in seiner Kernkompetenz nicht bedroht – wohl aber durch das digitale Claims-Fishing. Der menschliche Vertrieb wird noch lange der entscheidende Faktor für Neugeschäft und Bestandserhalt bleiben. Herr Kaiser muss aber zeitgemäße Rechtsschutz-Produkte anbieten können und der Rechtsschutzversicherer selbst sich als 24/7-Rechtsproblemlöser und Rechtslotse des Kunden mit digitalen oder auch situativen Rechtsproduktlösungen positionieren. Diese neuen „digitalen Produkte“ müssen so smart und nützlich sein wie Legal Techs. Ergo: Vertrieb analog – Produkt digital!
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Warum Rechtsschutz nicht von der Digitalisierung bedroht ist