Dr. Jannis Konstas, Justiziar der DAHAG Rechtsservices AG, hat für Sie einen Blick auf das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) geworfen und in den Kontext von Rechtsschutzversicherungen eingeordnet. Wo greift es? Wo nicht? Was ist zu tun? Und wie gestaltet man telefonische Rechtsberatung barrierefrei?


Informationen über den Autor

Dr. Jannis Konstas – Justiziar der DAHAG Rechtsservices AG
Rückfragen, Feedback und Anmerkungen zum Artikel sind immer willkommen!
Schreiben Sie an jannis.konstas@dahag.de

1. Abstrakte Barrierefreiheit von Produktangebot und Produktgestaltung

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) dient der Verbesserung der Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen, um Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Nutzung zu ermöglichen. Es ist jedoch nicht unmittelbar auf Versicherungen anwendbar, da diese nicht im Anwendungsbereich des § 1 BFSG genannt werden.

Dies betrifft auch Assistance-Leistungen wie die Organisation einer telefonischen Rechtsberatung, die von vielen Rechtsschutzversicherungen angeboten wird. Diese kann entweder als faktische Assistance-Leistung ohne ausdrückliche Erwähnung im Versicherungsvertrag oder als vertraglich festgelegte Leistung erbracht werden. Unabhängig davon verpflichtet das BFSG nicht abstrakt dazu, Versicherungsprodukte oder deren Gestaltung barrierefrei zu machen.

2. Konkrete Ausgestaltung

Während Versicherungsprodukte selbst nicht vom BFSG erfasst werden, können bestimmte Prozesse eines Versicherungsunternehmens (z. B. Vertrieb, Betrieb, Leistung) durchaus unter das Gesetz fallen, insbesondere, wenn sie mit Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr verbunden sind.

2.1. Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr

Laut § 2 Nr. 26 BFSG gelten „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“ als Telemedien-Dienstleistungen, die über Webseiten oder mobile Anwendungen angeboten werden. Sie müssen elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers erfolgen und sich auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags beziehen. Daher könnten folgende Bereiche unter das BFSG fallen:

2.1.1. Online-Antragsprozess

Der Online-Antrag für eine Rechtsschutzversicherung führt zum Abschluss eines Vertrags und unterliegt daher dem BFSG, sofern der Verbraucher die Zielgruppe ist. Dies bedeutet, dass Online-Antragsstrecken barrierefrei gestaltet werden müssen.

2.1.2. Vertragsänderungen

Das BFSG unterscheidet nicht zwischen dem Abschluss eines neuen Vertrags und der Änderung eines bestehenden Vertrags.

  • Änderungen ohne Auswirkungen auf Hauptleistungspflichten (z. B. Änderung der Adresse oder Kontoverbindung) sind möglicherweise nicht vom BFSG erfasst.
  • Änderungen, die sich auf die Leistungen der Versicherung auswirken (z. B. die Anschriftenänderung im Grundstücks-Rechtsschutz), könnten unter das BFSG fallen.
  • Vertragserweiterungen unterliegen bereits nach dem Wortlaut des BFSG dem „Abschluss eines Vertrags“.
  • Kündigungen sind keine Vertragsänderungen, sondern einseitige Willenserklärungen.
  • Die Mitteilung eines Risikowegfalls könnte in den Anwendungsbereich des BFSG fallen, falls daraus ein Anspruch auf Vertragsanpassung resultiert.
2.1.3. Fallstrick Webseiten

Auch wenn die Leistungsabwicklung selbst nicht unter das BFSG fällt, könnten Webseiten-Zugänge zur Barrierefreiheit verpflichtet sein, da sie oft Nutzungsbedingungen oder Datenschutzbestimmungen enthalten, die einen stillschweigenden Vertragsabschluss bedeuten könnten. In solchen Fällen könnte das BFSG durch eine indirekte Verbindung zur Anwendung kommen.

2.1.4. Leistungsabwicklung

Es stellt sich die Frage, ob digitale Elemente der Leistungsabwicklung dem BFSG unterliegen.

  • Ein Schadensfall führt nicht zu einem neuen Vertrag zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer.
  • Auch Assistance-Leistungen, die der Versicherer aufgrund des Vertrags erbringt, fallen nicht in den Anwendungsbereich des BFSG.

Hier ist aber fraglich, ob ein intendierter Vertragsschluss mit dem Versicherer selbst erforderlich ist oder ob die Vermittlung eines Verbrauchervertrags mit einem Dritten als Dienstleistung, die barrierefrei zu gestalten ist, für eine Anwendbarkeit des BFSG ausreicht. Für die Auslegung, dass ein intendierter Vertragsschluss mit einem Dritten zur Erfüllung des Tatbestandes ausreicht, spricht § 2 Abs. 4 BFSG. Nach dieser Regelung sind bestimmte Inhalte von Drittanbietern ausgenommen. So zum Beispiel, wenn diese nicht von dem betreffenden Versicherer finanziert, entwickelt oder kontrolliert werden. Diese Regelung wäre nicht notwendig, wenn ausschließlich auf den Versicherer als Dienstleistungserbringer abzustellen wäre.

Dies betrifft insbesondere die telefonische Rechtsberatung, die durch eine Anwaltskanzlei erbracht wird, aber vom Rechtsschutzversicherer finanziert wird. Da hier ein Vertrag mit einem Anwalt geschlossen wird, erscheint die Anwendung des BFSG auf die Dienstleistung des Rechtsschutzversicherers, hier die Vermittlung oder Organisation einer telefonischen Rechtsberatung, möglich. Der sicherste Weg wäre es daher, die Organisation der telefonischen Rechtsberatung barrierefrei zu gestalten.

2.2. Telekommunikationsdienste

Es erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, dass Versicherungen als Anbieter von Telekommunikationsdiensten betrachtet werden könnten.

Laut § 2 Nr. 7 BFSG und der Richtlinie (EU) 2018/1972 zählen zu den elektronischen Kommunikationsdiensten unter anderem:

  • Internetzugangsdienste
  • Interpersonelle Kommunikationsdienste
  • Signalübertragungsdienste

Die Telefonie fällt unter den Begriff der „interpersonellen Kommunikationsdienste“. In den letzten 20 Jahren haben Rechtsschutzversicherer erhebliche Ressourcen in den Aufbau und die Optimierung ihrer telefonischen Kundenschnittstellen investiert, insbesondere zur gezielten Steuerung der Versicherungsnehmer. Ein zentrales Element dabei ist die weit verbreitete Nutzung von „Interactive Voice Response“-Systemen (IVR).

Ein wesentlicher Bestandteil dieser telefonischen Kundenschnittstelle ist die telefonische Rechtsberatung, die von nahezu allen Rechtsschutzversicherern angeboten wird. Sie spielt eine entscheidende Rolle im Kundenservice, der Schadensteuerung und dem Schadenmanagement.

Die Integration der telefonischen Rechtsberatung in die Kundenschnittstelle führt dazu, dass das BFSG auf die telefonische Verbindung zur Anwaltskanzlei anwendbar wird.

Dies gilt im Regelfall auch dann, wenn der Anruf ohne IVR direkt an eine Anwaltskanzlei weitergeleitet wird. Denn in der Regel erfolgt dies nicht über deren eigene Telefonnummer, sondern über eine hauseigene Rufnummer des Versicherers, die dann intern zur Kanzlei oder einem externen Dienstleister umgeleitet wird. Rein technisch liegt auch in dieser Umleitung eine Telekommunikationsdienstleistung.

3. Barrierefreiheit der Organisation der telefonischen Rechtsberatung

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist zwar nicht direkt auf Versicherungsprodukte anwendbar, jedoch auf bestimmte digitale Prozesse wie den Online-Antragsprozess, Vertragsänderungen, Schadenmeldungen und – abhängig von der technischen Umsetzung – auf die Organisation der telefonischen Rechtsberatung. Als sichersten Weg sollten Versicherer darauf achten, ihre digitalen Dienstleistungen und Kommunikationskanäle barrierefrei zu gestalten.

Doch gerade was die Organisation der telefonischen Rechtsberatung angeht, ist die Aufgabe nicht gerade trivial. Rechtlich scheint die Sache klar: Nach § 14 der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) müssen Telekommunikationsdienste, die Sprachkommunikation ermöglichen, zusätzlich eine Echtzeit-Textfunktion (RTT) bereitstellen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die telefonische Rechtsberatung vollständig in Textform erfolgen muss, sondern dass die Telekommunikation die Zweiwege-Echtzeittextfunktionalität unterstützen muss. Die technischen Anforderungen hierzu sind in der DIN EN 301549 festgelegt.

Ob diese Regelung den Rechtsratsuchenden tatsächlich weiterhilft, ist fraglich. In der Praxis wird die Möglichkeit, neben Sprache auch Text zu übermitteln, von beratenden Rechtsanwälten aufgrund fehlender technischer Infrastruktur kaum genutzt. Damit bleibt das eigentliche Ziel der Barrierefreiheit in der Dienstleistungserbringung unerreicht.

3.1 Chat als Alternative?

Eine praktikable Lösung wäre, dem Versicherungsnehmer nicht nur eine telefonische Rechtsberatung anzubieten, sondern auch die Option einer textbasierten Chat-Beratung bereitzustellen. Diese Form der Beratung entspricht der RTT-Funktionalität am ehesten. Andere digitale Kommunikationswege, wie E-Mail oder Portallösungen, erfüllen die Anforderungen an Synchronität nicht, da sie keine unmittelbare Interaktion und direkte Rückfragen ermöglichen.

Nach einer Internet-Recherche bieten folgende Rechtsschutzversicherer bereits die Organisation eines Rechtsberatungs-Chats an:

  • ADAC Rechtsschutzversicherung
  • AdmiralDirekt
  • ADVOCARD
  • ARAG
  • AUXILIA
  • DEVK
  • HUK-COBURG
  • HUK24
  • Itzehoer
  • LVM
  • ÖRAG
  • R+V
  • VGH
  • WGV
  • Zurich

Dabei fällt auf, dass die Chat-Funktion seitens der genannten Versicherer nicht als barrierefreie Alternative zur telefonischen Rechtsberatung dargestellt wird. Obwohl derzeit (bis 28.06.2025) keine Verpflichtung zur Barrierefreiheit besteht, könnten diese RSVs bereits mit minimalen Anpassungen als Vorreiter auf diesem Gebiet auftreten.

3.2 Lösungsoption

Sofern RSVs noch keine Chat-Rechtsberatung implementiert haben, empfehlen wir, diese vor dem 28.06.2025 einzubinden, um einen barrierefreien, alternativen Beratungsweg anzubieten und potentielle Verstöße gegen das BFSG präventiv auszuschließen.

Von der technischen Seite genügt die Einbindung eines Links zum DAHAG-Chat auf der Website der RSV. Vertraglich können bestehende Telefonberatungs-Verträge um das Element „Chat“ ergänzt werden.

Ein erfreulicher Nebeneffekt: Die finale Erledigungsquote bei der Chat-Rechtsberatung liegt durch die Verschriftlichung mit über 90% deutlich höher als bei der Telefonberatung. Die Einbindung des Chats erfüllt nicht nur die Anforderungen des BFSG, sondern senkt auch die Schadenkosten.