Urteil des BGH vom 14.08.2019 (Az. IV ZR 279/17)
Der erste Teil des Urteils klärt eine prozessrechtliche Frage, die insbesondere für die Verwender von Allgemeinen Geschäftsbedingungen relevant ist.
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Dr. Jannis Konstas – Justiziar der Deutschen Anwaltshotline AG
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I. Das Anerkenntnis im Revisionsverfahren
Der BGH hat einer einschränkenden Auslegung von § 555 Abs. 3 ZPO eine Absage erteilt.
Um was geht es da?
Gerade in Rechtsstreitigkeiten, bei denen die Auslegung oder die Wirksamkeit von Klauseln streitentscheidend ist, kann ein höchstrichterliches Urteil eine erhebliche Bedeutung für eine Vielzahl von anderen Rechtsverhältnissen oder Rechtsstreitigkeiten haben. Deswegen kann es von einem vitalen Interesse einer Partei sein, dass, wenn sich eine Niederlage abzeichnet, zumindest keine eindeutige Rechtssicherheit für alle anderen Rechtsverhältnisse entsteht.
Der Zivilprozess unterliegt der Dispositionsmaxime. Die Parteien entscheiden grundsätzlich über die Einleitung und Beendigung. Erkennt der Kläger, dass er den Streit verlieren wird, kann er die Klage zurücknehmen. Erkennt der Beklagte, dass er schlechte Karten hat, kann er anerkennen. Erkennt die Beklagtenseite einen Klageanspruch an, ergeht ein Anerkenntnisurteil.
Das Besondere an einem Anerkenntnisurteil ist, dass es keinen Tatbestand und keine Entscheidungsgründe enthalten muss. Durch ein Anerkenntnis kann der Beklagte (um den Preis des Unterliegens) also verhindern, dass eine streitige Frage, wie zum Beispiel die Wirksamkeit einer Klausel, vom Gericht erörtert wird und das Gericht dazu in einem Urteil Stellung nimmt.
Ein Anerkenntnisurteil ergeht von Amts wegen. Der Beklagte erklärt, den Klageanspruch anzuerkennen, das Gericht verurteilt ihn darauf.
Diese Möglichkeit hat der Gesetzgeber im Rahmen einer Revision eingeschränkt. Ein Anerkenntnisurteil ergeht nur auf besonderen Antrag des Klägers. Beantragt er dieses Urteil nicht, obwohl der Beklagte anerkannt hat, ergeht trotzdem ein streitiges Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen.
Es gab aber die Auffassung, dass dies erst ab Beginn der mündlichen Verhandlung gelte. Dieser Auffassung hat der BGH nun eine Absage erteilt. Wenn der Kläger will, bekommt er ein „echtes“ Urteil, egal wann in dem Revisionsverfahren das Anerkenntnis erklärt wird.
Kurz: Wenn eine Rechtsfrage zum BGH gelangt, soll die Rechtsfrage auch geklärt werden, wenn der Kläger dies wünscht. Der Beklagte soll sich der Klärung der Rechtsfrage nicht durch prozessualen Selbstmord entziehen können.
II. Intransparente Obliegenheiten
Der zweite Teil der Entscheidung dürfte aus Sicht der Schadenabteilungen durchaus Auswirkungen in der Praxis haben.
Das Gericht hat die von einigen Gesellschaften intensiv und von anderen kaum verwendete Klausel hinsichtlich der Obliegenheiten für intransparent und entsprechend für unwirksam erklärt:
§ 17 Verhalten nach Eintritt eines Rechtsschutzfalls
(1) Wird die Wahrnehmung rechtlicher Interessen des Versicherungsnehmers nach Eintritt eines Rechtsschutzfalls erforderlich, hat er
…
c) soweit seine Interessen nicht unbillig beeinträchtigt werden,
…
bb) für die Minderung des Schadens im Sinne des § 82 VVG zu sorgen. Dies bedeutet, dass die Rechtsverfolgungskosten so gering wie möglich gehalten werden sollen. Von mehreren möglichen Vorgehensweisen hat der Versicherungsnehmer die kostengünstigste zu wählen, in dem er z.B. (Aufzählung nicht abschließend):
– nicht zwei oder mehrere Prozesse führt, wenn das Ziel kostengünstiger mit einem Prozess erreicht werden kann (z.B. Bündelung von Ansprüchen oder Inanspruchnahme von Gesamtschuldnern als Streitgenossen, Erweiterung einer Klage statt gesonderter Klageerhebung),
– auf (zusätzliche) Klageanträge verzichtet, die in der aktuellen Situation nicht oder noch nicht notwendig sind,
– vor Klageerhebung die Rechtskraft eines anderen gerichtlichen Verfahrens abwartet, das tatsächliche oder rechtliche Bedeutung für den beabsichtigten Rechtsstreit haben kann,
– vorab nur einen angemessenen Teil der Ansprüche einklagt und die etwa nötige gerichtliche Geltendmachung der restlichen Ansprüche bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Teilansprüche zurückstellt,
– in allen Angelegenheiten, in denen nur eine kurze Frist zur Erhebung von Klagen oder zur Einlegung von Rechtsbehelfen zur Verfügung steht, dem Rechtsanwalt einen unbedingten Prozessauftrag zu erteilen, der auch vorgerichtliche Tätigkeiten mit umfasst.
Der Versicherungsnehmer hat zur Minderung des Schadens Weisungen des Versicherers einzuholen und zu befolgen. Er hat den Rechtsanwalt entsprechend der Weisung zu beauftragen.
…
(6) Wird eine der in den Absätzen 1 … genannten Obliegenheiten vorsätzlich verletzt, verliert der Versicherungsnehmer seinen Versicherungsschutz. Bei grob fahrlässiger Verletzung einer Obliegenheit ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen.
…
(7) Der Versicherungsnehmer muss sich bei der Erfüllung seiner Obliegenheiten die Kenntnis und das Verhalten des von ihm beauftragten Rechtsanwalts zurechnen lassen, sofern dieser die Abwicklung des Rechtsschutzfalls gegenüber dem Versicherer übernimmt.
…“
Die Entscheidung kommt nicht überraschend. Bereits 2009 hat der BGH darauf hingewiesen, dass er Regelungen zur Obliegenheitsverletzung als intransparent erachtet. Der BGH hat in einem Hinweisbeschluss ausgeführt:
„Die Parteien werden auf Folgendes hingewiesen: Die dem Versicherungsnehmer aufgegebene Obliegenheit, „… soweit seine Interessen nicht unbillig beeinträchtigt werden,… cc)… alles zu vermeiden, was eine unnötige Erhöhung der Kosten oder eine Erschwerung ihrer Erstattung durch die Gegenseite verursachen könnte“, ist möglicherweise wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot und das Leitbild der §§ 6, 62 VVG a. F. nach § 307 BGB unwirksam. Das Anwaltsverschulden dürfte dem Versicherungsnehmer unter keinem Gesichtspunkt zuzurechnen sein, soweit es um einen Verstoß gegen diese Obliegenheit geht.“
(Beschl. v. 22.5.2009 – IV ZR 352/07, Kallenbach AnwBl. 2009, 784, dort Fußnote 3)
Dem Rechtsstreit von 2009 lag die Frage zugrunde, ob der Versicherungsnehmer in einer arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzsache auf die sofortige Erhebung der Kündigungsschutzklage verwiesen werden kann. Zu einer Entscheidung kam es nicht. Der betroffene Versicherer hat die Klage anerkannt.
Die anwaltliche Taktik in arbeitsrechtliche Angelegenheiten mit streitwerterhöhender Relevanz in Form von textbausteinartigen Anträgen war schon immer Gegenstand von Differenzen zwischen Schadenabteilungen und Anwälten und wird es auch bleiben.
Im Zeitalter der Massenklagen und des Claims-Fishings kommt einer anderen Klausel eine wesentliche Bedeutung zu, nämlich die Obliegenheit, dass der Versicherungsnehmer „vor Klageerhebung die Rechtskraft eines anderen gerichtlichen Verfahrens abwartet, das tatsächliche oder rechtliche Bedeutung für den beabsichtigten Rechtsstreit haben kann“.
Ob es sich um die Frage der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch einen deutschen Autobauer handelt oder ob bestimmte Klauseln bei Darlehensverträgen oder Lebensversicherungen wirksam sind – das Claims-Fishing lebt von der Gleichartigkeit der Sachverhalte, die eine industrielle Rechtsvertretung überhaupt erst möglich macht. Die Gleichartigkeit der Sachverhalte führt auch dazu, dass einzelnen „Musterverfahren“ eine hohe Bedeutung zukommt. Auch Richter kennen und verwenden Textbausteine, gerade wenn die Gerichte mit Massenverfahren geflutet und an den Rand der Arbeitsfähigkeit gebracht werden.
Hier könnte ein Verzicht auf die Warteobliegenheit zu einer deutlichen Erhöhung der Schadenaufwendungen führen, ohne dass sich dadurch die Rechtsposition des Versicherungsnehmers verbessert. Soweit streitentscheidende Fragen beim BGH oder beim zuständigen OLG anhängig sind, würde ein Amts- oder Landgericht das Verfahren aussetzen oder zumindest faktisch so lange verzögern, bis Klarheit gewonnen ist.
Relevant ist die Klausel auch bei Musterfeststellungsverfahren.
Es stellt sich aber auch die Frage, ob sich die Rechtslage durch das Urteil so nachhaltig ändert, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Klausel ist intransparent und unwirksam. An die Stelle der Klausel tritt die gesetzliche Regelung, die – jedenfalls aus Sicht des Versicherungsnehmers – noch unschärfer, weil abstrakter als die ARB-Klausel ist.
III. Keine Zurechnung des Verhaltens des Rechtsanwaltes
Eine weitere Klausel hat der BGH verworfen, nämlich dass das Verhalten des Rechtsanwaltes bei der Erfüllung der Obliegenheiten dem Versicherungsnehmer zuzurechnen ist. Diese Regelung widerspricht dem wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung.
IV. Handlungsbedarf und Handlungsoptionen
Im Folgenden soll nun versucht werden, einen etwaigen Handlungsbedarf und etwaige Handlungsoptionen zu beleuchten, die sich aus dem Urteil ergeben.
1. Prozesstaktik in Deckungsklagen
Die Verwender von AGB werden sich bereits in den Tatsacheninstanzen verstärkt Gedanken darüber machen müssen, ob sie bereit sind, Rechtsfragen, die weitreichende Folgen haben können, bis zum BGH vordringen zu lassen. Im Zweifel wird früher die Reißleine zu ziehen sein.
2. Obliegenheiten
Ganz profan ist in organisatorischer Hinsicht sicherzustellen, dass auf die verworfenen Klauseln in Textbausteinen nicht mehr Bezug genommen wird.
Anstelle auf § 17 ARB verweisen zu können, werden Rechtsschutzversicherer auf § 82 VVG zurückgreifen müssen. Zwar bewirkt eine vorsätzliche Verletzung der allgemeinen Schadensminderungspflicht nach § 82 Abs. 1 VVG auch Leistungsfreiheit nach § 82 Abs. 2 VVG. Realistisch wird einem Versicherungsnehmer aber niemals nachzuweisen sein, dass er von vornherein die Kostenfolgen des taktischen Vorgehens seines Anwalts kannte und auch wusste, welcher Weg kostengünstiger gewesen wäre.
Hier kommt das Weisungsrecht des Versicherers ins Spiel. Im Rahmen der Deckungszusage wird dem Versicherungsnehmer in verständlicher Form vorzugeben sein, welchen Auftrag er seinem Rechtsanwalt erteilen soll, um eine Leistungskürzung zu vermeiden und warum dies so ist.
Die Beweislast für eine Obliegenheitsverletzung liegt nach § 69 Abs. 3 Satz 2 VVG beim Versicherer. Wie er die Kenntnis des Versicherungsnehmers vom kostengünstigeren Weg beweisbar macht, hängt auch davon ab, mit wem der Versicherer kommuniziert.
Hier wirkt sich nun der dritte Teil des Urteils aus, mit dem die Zurechnungsklausel verworfen wurde.
Rechtsanwälte führen für ihre Mandanten die Kommunikation mit den Rechtsschutzversicherern als Serviceleistung meist unentgeltlich und betrachten dies als ein Gefälligkeitsverhältnis. Manche Rechtsanwälte weisen sogar ausdrücklich darauf hin, dass sie für Rückfragen unzuständig sind. Man kann also auch nicht per se davon ausgehen, dass die Rechtsanwälte rechtsgeschäftlich als Empfangsvertreter bevollmächtigt sind, den Versicherungsfall umfassend abzuwickeln.
Denkbar ist es, den Rechtsanwalt als Empfangsboten anzusehen. Nach § 11 BORA ist er verpflichtet, den Mandanten über alle wesentlichen erhaltenen Schriftstücken zu informieren. Dazu müsste sich aber das Schreiben auch an den Versicherungsnehmer richten.
Sicherster Weg ist es daher, Schreiben, die Weisungen im Sinne des § 82 VVG enthalten, unmittelbar an den Versicherungsnehmer zu richten und den Rechtsanwalt mittels einer Abschrift darüber zu unterrichten. Unter Umständen und wenn ein Konflikt mit dem Versicherungsnehmer absehbar ist, könnte es sogar notwendig werden, mit einem Einwurf-Einschreiben die Erhebung des Einwand des Nichtzuganges zumindest ein wenig zu erschweren.
3. Anwaltsregress
Einen anderen Ansatz zeigte schon Cornelius-Winkler auf, nämlich die Inanspruchnahme des Rechtsanwalts auf Schadensersatz, wenn dieser bei zwei gleichsicheren Varianten der Rechtsverfolgung nicht die kostengünstigere wählt (Cornelius-Winkler, Zur Neufassung der Obliegenheiten nach Eintritt eines Versicherungsfalls in den ARB 2010, r + s 2011, 141 ff.).
4. Abwehrdeckung
Als weitere Alternative besteht die Möglichkeit, gerade in arbeitsrechtlichen Versicherungsfällen, den Versicherungsanspruch durch Abwehrdeckung (BGH, Urt. v. 11. 4. 2018 – IV ZR 215/16) statt Gebührenfreistellung zu erfüllen.
5. Steuerung
Die Schadenregulierung wird durch das neue Urteil des BGH nicht einfacher werden. Deshalb steigt die Bedeutung des aktiven Schadenmanagements, insbesondere die Steuerung des Versicherungsnehmers. Aber auch technische Lösungen, die den Nachweis des Zugangs von Weisungen beim Versicherungsnehmer möglich machen, wie zum Beispiel Smartphone-Apps, könnten die Schadenregulierung erleichtern.
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BGH kippt Schadenminderungspflicht