Seit Mitte März 2020 steckt die Welt im Krisen-Modus. Auch die Rechtsschutzbranche ist voll betroffen.


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Johannes Goth – Vorstand Deutsche Anwaltshotline AG
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Vermutlich noch nie in der 70-jährigen Geschichte des modernen Rechtsschutzes haben sich so viele Kunden in so kurzer Zeit an ihre Versicherer gewandt – in den ersten Wochen überwiegend mit dem dringenden Wunsch nach „Corona-Rechtsberatung“ und noch nicht mit „echten“ Schadenfällen.

Wir als DAHAG schätzen, dass alleine in den ersten vier Corona-Wochen branchenweit über 200.000 (!) Telefonberatungen durchgeführt wurden (normal sind ca. 100.000 Calls monatlich).

Auch heute, Ende Mai, liegt der Beratungsbedarf kontinuierlich über 50% höher als noch im Januar oder Februar. Ein Rückgang der Callzahlen ist jedenfalls im Moment nicht in Sicht.

Zu dem hohen Beratungsbedarf kommt seit etwa drei Wochen eine fast verdoppelte Nachfrage nach anwaltlicher Vertretung / zentraler Mandatsbearbeitung dazu. Überwiegend geht es hier um Reiserecht, Vertragsrecht und Arbeitsrecht. Da nur ein Teil der Rechtsprobleme der Kunden in effektive Kanäle gesteuert werden kann, steht zu vermuten, dass nun auch die Anzahl an Kanzleischäden massiv ansteigen wird.

Folgende Szenarien im Schadenbereich halte ich für 2020 für denkbar:

  • Stark steigende Schäden im Arbeitsrecht.
  • Steigende Schäden im Reiserecht. Es könnte jedoch sein, dass Neuschäden im Reiserecht bis Ende 2020 abflauen, da überwiegend Buchungen aus 2020 betroffen sind.
  • Falls große Fluglinien oder große Reiseveranstalter durch die Corona-Krise in die Insolvenz gehen, würde es zu spontanen neuen Massenschäden wie bei Thomas Cook kommen. Es ist fraglich, ob der Staat dann erneut für alle Anzahlungen der Reisenden in die Bresche springen würde.
  • Steigende Schäden durch Streitigkeiten bei Dauerschuldverhältnissen (Art. 240 EGBGB). An dieser „Baustelle“ ist in der DAHAG-Telefonberatung als Frühindikator bereits ein Anstieg auf 1.500-2.000 Calls pro Woche über alle RSV zu bemerken. Wenn es hier noch eine Welle an Streitigkeiten über Beiträge zu Fitnessstudios, Mieten oder Kreditraten geben sollte, dann dürfte diese erst mit Verzögerung auftreten und Ende 2020 abebben, da keine neuen Fälle dazukommen (außer es gibt eine 2. große Pandemiewelle im Herbst).
  • Steigende Schäden bei Gewerbeverträgen, insbesondere rund um Dauerschuldverhältnisse (Mieten, Pachten, Leasing) und Arbeitsrecht.
  • Sammelklage gegen Ischgl.

Insbesondere bei Kündigungen im Arbeitsrecht sind die Kostensparpotentiale durch Steuerung limitiert. Es dürfte also ein für die Branche sehr teures Geschäftsjahr 2020 werden.

Spannend dürften außerdem die Auswirkungen der BGH-Entscheidung vom 25.5.2020 zu VW-Dieselgate werden. Werden die nun anstehenden Vergleiche zu Lasten VW geschlossen? Die Streitwerte dürften immerhin durch die Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer gesenkt werden.

Je nach Ausgestaltung der Vergleiche können diese sich positiv oder negativ auf die Schadenaufwendungen auswirken.

Und ergibt sich aus der festgestellten Arglist über § 826 BGB ein neuer Verjährungsbeginn, sodass nun hundertausende bisher untätige Autobesitzer doch noch auf der „gemähten Wiese“ ihre Ansprüche geltend machen könnten (wie damals nach dem BGH-Urteil zu den Kreditwiderrufen)?

Und 2021?

Ein Blick in die Kristallkugel verheißt auch nach dem Verhallen der Silvesterböller für 2021 nichts Gutes:

  • Viele Corona-Schäden dürften sich je nach Verlauf der Pandemie auch noch ins nächste Jahr auswirken. Gerade im Arbeitsrecht steht zu befürchten, dass viele Firmen zeitversetzt in Bedrängnis kommen und dann erst 2021 mit zahlreichen Kündigungen reagieren. Worst Case wäre eine Kette „Corona-Krise -> Bankenkrise -> Finanzkrise -> Depression -> Massenentlassungen“.
  • Spannend dürfte sein, wie von den Kunden – angestachelt von den Claimsfishern – die Karte der Kreditwiderrufe durch die aktuelle EuGH-Entscheidung gespielt wird und ob sich die RSV diesem Spiel durch Deckungsablehnungen entziehen können. Die einschlägigen Kanzleien sind jedenfalls auf Google schon sehr aktiv und betreiben auch aktive Pressearbeit.
  • Und zur Krönung: die anstehenden Erhöhung des RVG in 2021. Die Rede ist von satten 10%. Das wird dann der Betonklotz an den Füßen sein, der nicht nur die 2021er, sondern auch die 2022er Combined Ratio mächtig nach unten ziehen könnte.

Gibt es überhaupt „Good News“?

Ja, das Virus bringt tatsächlich auch ein paar positive Effekte mit sich, die der Branche bei einer klugen Ausrichtung ihrer Strategie sogar nachhaltige Vorteile bringen können.

Als kurzfristige Entlastungen für den Schaden 2020 vermute ich folgende Positionen:

  • Geringere Anzahl Schäden im Verkehrsrecht / Owi durch weniger Verstöße durch geringere Autonutzung.
  • Geringere Anzahl Schäden durch weniger geschlossene Verträge (Autokauf, Werkstatt, Umzüge, etc.).
  • Geringere Anzahl von Reisemängel-Schäden durch entfallene Reisen.
  • Geringere Anzahl von Flugverspätungs-Schäden durch entfallene Flüge.

Zudem gab es den erfolgreichen Vergleich im Musterfeststellungsverfahren zu VW-Dieselgate. Es bleibt dabei aber abzuwarten, wie viele VN sich überhaupt im MVV registriert hatten und dem Vergleich zugestimmt haben. Aber auch die noch offenen Individualklagen werden vermutlich weiterhin überwiegend zu Lasten von VW beendet werden, so dass hier die finale Schadenbelastung für die RSV überschaubar bleiben dürfte.

Auf der Vertriebsseite kann vermutet werden, dass die Menschen in unsicheren Zeiten eher ihre vorhandenen Rechtsschutzverträge behalten werden, was zu einer niedrigeren Kündigungsquote führen sollte. Und auch im Neugeschäft kann durch die allgemeine Verunsicherung so mancher Mehrabschluss erzielt werden, wenn die Vermittler bald wieder raus dürfen. Da kann dann natürlich so mancher heimlicher Zweckabschluss dabei sein (Kreditwiderruf, Arbeitsrecht).

Perspektivischer Vorteil für die RSV

Noch nie haben sich so viele Kunden in so kurzer Zeit bei Rechtsfragen direkt an ihren Versicherer gewandt. Die Bemühungen der letzten Jahre, sich vom Zahlmeister zum Problemlöser zu wandeln, tragen offenbar erste Früchte. Und da die Anwaltshotlines den „Call-Tsunami“ auch ziemlich gut bewältigen konnten, haben extrem viele VN eine positive Erfahrung von sofortiger Hilfe und Unterstützung durch ihre RSV erlebt. Solche Erlebnisse von schneller Hilfe gerade in großer Unsicherheit und Not prägen die Menschen nachhaltig.

Dazu haben die Menschen im Corona-Lockdown über viele Wochen gelernt, alle Lebensbedürfnisse über Telefon und Internet zu regeln. Auch die Generation 60+ weiß jetzt, wie man eine Pizza online bestellt, wie man mit Whatsapp Videotelefonate führt und dass man für eine Krankschreibung gar nicht mehr unbedingt in die Praxis muss.

Diese nun in der gesamten Bevölkerung „eingeübten Erfahrungen“ werden nach unserer Prognose zwei Effekte haben:

  • Die Claimsfisher werden noch mehr Auftrieb bekommen, weil sich die Lösungssuche weg von den Kanzleien noch mehr ins Internet verlagert. Und die Claimsfisher werden schneller und professioneller.
  • Die Kunden werden sich aber auch nach Abklingen der Corona-Pandemie nachhaltig öfter direkt an ihre RSV wenden und somit werden mehr Schäden steuerbar. Eine strukturelle Steigerung der Erstschaden-Meldequote und der telefonischen Rechtsberatung um +10% im Jahr 2021 und den Folgejahren halte ich für nicht unrealistisch. Da das Einsparpotential eines gesteuerten Schadens gigantisch ist, könnte diese Entwicklung die oben beschriebenen negativen Effekte deutlich mindern.

Die RSV haben es dabei selbst in der Hand, diese neue „Nach-Corona-Welt“ zu ihrem Vorteil zu nutzen. Denn der Kunde hat nun natürlich auch die Erwartungshaltung, dass er seine Rechtsprobleme über die RSV so einfach lösen kann, wie er eine Pizza bei Lieferando bestellen kann.

Die Branche sollte also ihre Online-Auftritte anpassen und telefonische und digitale Lösungsmodule (z.B. Chat-Rechtsberatung, Online-Assistenten, etc.) für Bestandskunden präsent positionieren – und dort nicht fast ausschließlich die aktuellen Tarife für Neukunden anpreisen. Die Website darf also nicht mehr nur ein Vertriebs- und Marketingkanal sein! Denn wenn sich die Branche als Problemlöser darstellen will, muss sie die Lösungsmodule auch offensiv auf der Website promoten (was im Übrigen den Vertrieb durchaus unterstützen wird, denn der Kunde kauft gern Produkte, bei denen er sofort sieht, wie einfach er dann die Hilfe im Notfall erhalten wird).

Wie die meisten Leser dieses Reports wissen, bin ich schon lange ein großer Verfechter von Rechtsschutz-Apps und glaube an deren Wirkkraft.

Man stelle sich nur kurz vor, Rechtsschutz- oder Schadenmelde-Apps wären schon seit Jahren breitflächig in den Häusern vorhanden und im Bestand schon ein Stück weit verbreitet: Wie einfach wäre der Corona-Ansturm trotz Homeoffice zu bewältigen gewesen:

  • Die Schadenmeldungen direkt vom VN wären mit strukturierten Daten online eingegangen.
  • Die Sachbearbeiter hätten diese zeitversetzt und unterstützt von Textbausteinen bearbeiten und beantworten können – und nicht live völlig überlastet am Telefon.
  • Die Steuerung in die günstigen Module wäre einfach und teilautomatisiert per App erfolgt.
  • Die teuren nun folgenden „Kanzleischäden“ hätten viel besser gesteuert werden können.
  • Viel weniger Fälle wären zu den Claimsfishern gegangen, wenn die eigene RSV einfache Lösungen „per Klick“ anbietet.
  • Der VN hätte seine RSV durch die Nutzung der App als „rettenden Engel“ wahrgenommen. Er würde bei zukünftigen Rechtsproblemen immer wieder die App benutzen.

Wahrscheinlich hätte ein Teil der VN diese imaginären Apps längst vergessen oder noch gar nicht installiert gehabt. Aber durch ein einziges Mailing mit einem Flyer am Beginn des Lockdowns hätte man gewiss gigantische Downloadzahlen erzielen können, denn die Kunden haben nach (möglichst digitaler) Unterstützung gelechzt.

Ob letztlich mit App oder ohne – mit einer weitsichtigen digitalen und kommunikativen Strategie kann der Rechtsschutz aus der Corona-Krise einen langfristigen strukturellen Vorteil ziehen.