Die DAHAG ist nun seit über 21 Jahren im Rechtsmarkt aktiv. Aber so viele Umbrüche und Entwicklungen mit disruptivem Potential wie im Jahr 2023 gab es noch nie.
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Johannes Goth – Vorstand DAHAG Rechtsservices AG
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KI/ChatGPT
Schon Ende 2022 hat ChatGPT uns alle verblüfft. Seitdem ist „KI“ das Buzzword Nummer 1 und hat in meiner Wahrnehmung auch all seine Buzzword-Vorgänger wie „Digitalisierung“, „Blockchain“, „Big Data“, usw. überflügelt. Meiner Einschätzung nach auch zu Recht.
Ja, es gibt unzählige Probleme mit dieser Technologie, die gerade bei Rechtsservices besonders nachteilig erscheinen. Das sogenannte „Halluzinieren“ – also das Hinzudichten von Falschinformationen – ist bei Rechtsfragen ganz besonders schlecht, weil die Folgen erheblich sein können. Es ist für den Nutzer eben etwas anderes, ob eine KI bei fünf Tieren mit A am Anfang den Elefanten nennt, oder ob ein Anspruch auf 10.000,– Euro fälschlicherweise verneint wird. Auch der Datenschutz und das anwaltliche Berufsrecht bzw. das Rechtsdienstleistungsrecht stellen erhebliche Herausforderungen dar, wenn KI im Rechts- und Rechtsschutzbereich in der Breite eingesetzt werden soll. Erste Versicherungskonzerne haben allzu leichtfertigen internen Versuchen erst mal wieder einen Riegel vorgeschoben. Für einen Konzern hat Compliance eben eine höhere Relevanz als für ein kleines Legal-Startup. Zudem sind Rechtsberatungen oft zu großen Teilen emotional geprägt. Es geht dem Betroffenen häufig nicht nur um die Rechtslage an sich, sondern um ein Mitteilungsbedürfnis, ja letztlich um „Gerechtigkeit“. Kann eine KI die emotionale Komponente bedienen? Weiß eine KI, was Gerechtigkeit ist? Und falls ja – will man das als Betroffener mit einer Maschine diskutieren?
Dennoch ist das „Werkzeug“ KI einfach zu gut, um es ungenutzt zu lassen. Gerade in der Schadenregulierung mit einer riesigen Zahl an (digital vorhandenen) Trainingsdaten sollten sich sehr nützliche Services bauen lassen.
In der Rechtsberatung hingegen dürfte die KI sehr zeitnah ein dienliches Werkzeug für Anwälte werden – sei es bei der Entlastung aller organisatorischen Vorgänge rund um die Beratung selbst (Aufnahme und Prüfung der VS-Nummer, Dokumentation, Steuerung), oder auch für sinnvolle Zusatzservices wie KI-unterstützte Anwaltsprotokolle für den VN nach der Telefonberatung.
Und der regulatorische Rahmen? Nach mittlerweile überwiegender Meinung im Schrifttum stellt der momentane Service von KI über Bing oder als GPT-App einen fortlaufenden Verstoß gegen das RDG dar. Denn es handelt sich um konkreten Rat in Einzelfällen und ist nicht vom BGH-Urteil zu Rechtsgeneratoren gedeckt („rein schematische Prüfung“). Über Rechtfragen, gestellt von Verbrauchern an eine KI, schwebt daher das ständige Damoklesschwert der Abmahnung. Microsoft und Open AI sind nunmal keine Kanzleien. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das Thema von einer Kammer oder irgendeinem Rechtsanwalt vor Gericht gebracht wird. Und wenn nicht das Rechtsberatungsmonopol der Anwaltschaft als Ganzes und damit weite Teile des RDG in Frage gestellt werden sollen, dann muss konkrete Einzelfall-Rechtsberatung für Verbraucher per KI untersagt werden. Technisch ist das Herausfiltern für die Betreiber wohl kein Problem. GPT beantwortet ja auch keine Fragen zum Bombenbau.
Als Werkzeug zur Steigerung des Outputs von Anwälten hätte GPT kaum zu einem besseren Zeitpunkt auftauchen können. Denn dem bereits voll zuschlagenden Anwaltsmangel kann so hoffentlich wirkungsvoll mit Hilfe von KI für Kanzleien begegnet werden.
Anwaltsmangel
Wer in den 90ern Jura studiert hat, reibt sich seit ein, zwei bis drei Jahren die Augen. Nach 30 Jahren – also einer ganzen Generation – der Anwaltsschwemme sind (forensisch tätige) Anwälte plötzlich eine knappe Ressource. Das Ausscheiden der Babyboomer und der höhere Frauenanteil werden die forensischen Rechtsanwalts-Vollzeitäquivalente von 2020 bis 2030 um fast 20 Prozent dezimieren. Und das bei gleichbleibender oder gar höherer Nachfrage nach Rechtsdienstleistungen, weil die Gesellschaft in Deutschland altert und durch Zuwanderung gleichzeitig wächst.
Wenn schon heute weniger Anwälte mehr Fälle beraten oder bearbeiten müssen, dann
- Wird es lange Wartezeiten auf einen Termin geben (wie schon lange bei Fachärzten)
- Werden Anwälte kaum noch unattraktive Mandate annehmen (z.B. Kleinforderungen)
- Werden Gebührenvereinbarungen für Beratung und für außergerichtliche Rechtswahrnehmung deutlich teurer werden
Unter diesen Rahmenbedingungen (mehr Fälle – weniger Anwälte) kann und muss die KI die Leistungsfähigkeit der Anwälte signifikant steigern. Und gerade Jura ist auch prädestiniert für den KI-Einsatz!
Zudem werden sich bei verknappten Anwaltsressourcen immer mehr Versicherungsnehmer direkt an ihre RSV wenden. Das ist erst mal gut! Aber – und das erst mal unabhängig von § 4 RDG – wer soll sich denn bei den RSV um all die Fälle kümmern? Auch die RSVs suchen händeringend nach Juristen. Sie finden heute oft schon kaum Bewerber – und morgen erst recht keine mehr.
Die Mangelsituation ist schon seit 2020 deutlich zu spüren. Und dennoch ist sie erst ein sanfter Vorbote der unaufhaltsam heranrollenden, riesigen Anwaltslücke. Der Umgang mit dieser sich stetig vergrößernden Lücke wird die größte Herausforderung für die Rechtsbranche der nächsten Jahre darstellen.
Fremdbesitzverbot
Ob der mögliche Fall des Fremdbesitzverbots an Kanzleien am Anwaltsmangel etwas ändern wird?
Obwohl ich persönlich auf eine Abschaffung durch den EuGH oder das Bundesjustizministerium noch 2024 wetten würde, bezweifle ich, dass die Abschaffung ein relevanter Gamechanger im Rechts- oder Rechtsschutzmarkt wird.
Auch wenn sich einige RSVs hier offenbar Hoffnungen machen und beim BMJ trommeln: Das BMJ scheint bei seinen Denkmodellen zur Novellierung des Fremdbesitzes stark daran interessiert zu sein, speziell und explizit die RSVs (oder deren Beteiligungskonstrukte) als Investoren ausschließen zu wollen.
Und selbst wenn Versicherer Kanzleien kaufen dürften: Die Wertabschöpfung aus Kanzleimandaten würde ja nur gelingen, wenn die meisten Schäden dann auch in die eigene Kanzlei gesteuert würden. Aber auch heute schon gelingt es sehr gut, steuerbare Schäden über Telefonberatung, Chatberatung, ZMB oder Shuttle-Mediation zu einem Bruchteil der Kosten eines „Kanzleischadens“ zu erledigen. Nur ein kleiner Teil der gesteuerten Fälle geht vor Gericht und wird nach RVG abgerechnet. Und das sind auch oft Fälle (außer Arbeitsrecht), die tatsächlich viel Aufwand in der Kanzlei verursachen. Die „Rechtsschutz-Kanzlei“ wäre also nur dann interessant, wenn die freie Anwaltswahl auch gleich abgeschafft würde. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen.
Es ist für den Kostenaufwand einer RSV am Ende des Tages gleich, ob diese an die eigene Kanzlei erst mal viel Geld bezahlt und dann einen Teil zurückerhält, oder ob der Fall gleich für eine geringe Pauschale von externen, hochorgansierten Partnerkanzleien oder Dienstleistern bearbeitet wird.
Dazu kommt: Es gibt nur sehr wenige Kanzleien in Deutschland, die durch ihre Organisationsstruktur und ihren Digitalisierungsgrad als Kaufkandidat für Rechtsschutz-Massenfallbearbeitung in Frage kommen. Die deutsche Kanzleilandschaft ist sehr heterogen und kleinteilig. Natürlich könnte sich eine RSV ihre eigene Kanzlei „bauen“. Aber als DAHAG-Vorstand habe ich die leidvolle Erfahrung gemacht: Die Unterstützung des Aufbaus einer Zentralkanzlei ist im Zusammenspiel mit Rechtsanwälten ein langwieriges und extrem energiefressendes Langzeit-Projekt mit ungewissem Ausgang. Und heutzutage reißen sich die Anwälte auch nicht darum, als Angestellte in einer „Rechtsschutz-Kanzleifabrik“ im Akkord zu arbeiten.
Der Fall des Fremdbesitzverbots dürfte also eher zum Entstehen von „Kanzlei-Versorgungszentren“ oder Kanzleiketten führen, finanziert von einer ähnlichen Investorenklasse wie bei den ärztlichen Versorgungszentren. Diese Entwicklung wäre zu begrüßen, weil diese Zentren leistungsfähiger und qualitativ besser sein können als viele kleine Einzelkanzleien. Und die Investoren könnten ihren Zentren dann eine ordentliche (aber teure) Kanzleisoftware samt KI-unterstützter Fallverwaltung zur Verfügung stellen.
Für die RSVs wären diese Zentren und Ketten dann durchaus interessante Ansprechpartner für Kooperationen als Steuerungsziel – auch ohne eigene Beteiligung.
Massenschäden, Claimsfishing & Anti-Claimsfishing
Mittlerweile gehen rund 20% der Schadenaufwendungen pro Jahr in die Taschen von einem guten Dutzend Claimsfishing-Kanzleien. Auch wenn Abgas endlich nachlässt – mit Facebook, Impfschäden, Schufa oder E-Auto-Reichweiten werden den Claimsfishern die Themen nie ausgehen. Ich bin gespannt, welche neuen Themen 2024 dazu kommen.
Die Professionalisierung des Claimsfishing schreitet enorm voran. Mit dem „Wirtschaftsverband der Rechtsanwälte“ wurde eine machtvolle Plattform für Informationsaustausch, Gebührenmaximierung und abgestimmtes Handeln gegenüber den kartellrechtlich eingeschränkten RSVs gegründet. Und mit Keen Law ist eine schlagkräftige Deckungsklage-Kanzlei entstanden, die durch Klagen gegen alle RSVs schneller lernt als jede einzelne RSV für sich.
Der interne Arbeitsaufwand und die durch Claimsfishing verursachten Schadenaufwendungen dürften also eher noch steigen.
Doch die RSV Branche steht dem Thema Claimsfishing ja keineswegs untätig und hilflos gegenüber. Auch einige RSVs haben ihre Deckungsstrategien überarbeitet und agieren hier professioneller als noch vor einigen Jahren – teils jedoch mit erheblichem internen Ressourcenaufwand und damit auch hohen internen Kosten. Hier kann die DAHAG ab 2024 Unterstützung anbieten: Die DAHAG AGENTUR wird für die teilnehmenden RSVs aktuelle Deckungsurteile sammeln, anonymisieren und aufbereiten. Bei neuen potentiellen Massenschäden werden auch Hauptsache-Urteile aufgenommen und analysiert. Es wird ein monatliches Briefing zur Entwicklung im „Massenschaden-Markt“ geben, ebenso wie einen „Alarm-Service“ bei neu auftretenden (potentiellen) Kumul-Themen. Damit kann jede teilnehmende RSV ihre eigene Schadenstrategie in Echtzeit anpassen. Das wird jeder RSV – im wahrsten Sinne des Wortes – Millionen einsparen.
Die mittelfristig mit Abstand wirkungsvollste Waffe gegen das Claimsfishing ist die Einführung von Meldetarifen. Die DAHAG hatte das Konzept des Meldetarifs schon im April 2017 (!) auf der User Group Rechtsschutz in Leipzig vorgestellt und empfohlen. Nun gehen immer mehr RSVs mit diesen Tarifen auf den Markt. Nach der Württembergischen und der DEVK hat nun auch die ROLAND als ein ganz großer Player 2023 ihren Basistarif als „echten“ Schadenmeldetarif an den Start gebracht. Weitere RSVs bereiten wohl Meldeklauseln für ihre nächste Tarifgeneration vor.
Natürlich wird es dauern, bis über 20 Millionen Verträge auf Meldetarife umgestellt sind. Aber die Kostensenkung von gesteuerten Schäden ist so massiv, dass es den Aufwand wert ist. Es gilt auch heute die Erkenntnis von 2017: Die Claimsfisher haben die Klicks – aber die Rechtsschützer bestimmen die Spielregeln.
Bis der Bestand umgestellt ist, hilft die Deckungsabfindung, den Claimsfishern das Wasser abzugraben. Nach zwei DAHAG-Pilotprojekten im Jahr 2023 steht fest: Deckungsabfindung funktioniert und spart erheblich Kosten. Durch das DAHAG-Gutachten und den Fachbeitrag von Prof. Dr. Armbrüster in der VersR ist endlich auch Rechtssicherheit vorhanden. Und gerade bei Owis kann man sogar mit Claimsfishern dealen. Deckungsabfindung kann zudem nicht nur bei Owis und Kleinforderungen ein wirkungsvolles Instrument darstellen, sondern auch bei neuen Massenschäden. Wenn es sein muss, auch mal gegen und nicht mit der Kanzlei.
Die DAHAG baut parallel zu den Piloten aktuell ihre IT-Systeme und Ressourcen aus, um 2024 den Service Deckungsabfindung im „industriellen Maßstab“ an alle unsere RSV-Partner anbieten zu können. Wenn 50% aller Owi-Schäden für jede RSV um 100 bis 200 Euro günstiger wären, wäre das schon ein großer Schritt nach vorn, oder?
Alles wird gut!?
Also wird trotz allen Umbruchs und aller disruptiven Unsicherheit alles gut? Am Ende bestimmt. Aber Rechtsschutz und die DAHAG an seiner Seite stehen auch 2024 vor enormen Herausforderungen und Anstrengungen.
Die gute Nachricht: Die Kunden sehen ihre RSV als sicheren Hafen und immer stärker als Problemlöser und damit als erste Anlaufstelle. Der Kunde will gesteuert werden. Sofort. Einfach. Am besten mit drei Klicks auf seinem Handy.
Die Herausforderung: Wie steuert man 10%, 20%, oder (bei Meldetarifen) gar 100% mehr vom VN gemeldete Fälle? Wer soll all diese Fälle beraten, kanalisieren, klassifizieren, bearbeiten und lösen? Die KI alleine erst mal lange noch nicht. Aber helfen dabei kann KI durchaus.
Auf diesem RSV-affinen Kundenverhalten lässt sich aufbauen: Mit Digitalisierung der Steuerung und clever eingesetzter KI kann interner Fachkräftemangel und Anwaltsmangel ausgeglichen werden. Dabei gilt: Weder Steuerungs-Digitalisierung noch KI-Services sind umsonst zu haben. Aber alles „Digitale“ ist am Ende sehr viel billiger als ein Rechtsfall, der in einer Internet-Kanzlei landet.
Und die Claimsfisher? Hier wird es wahrscheinlich einen langen harten Abnutzungskampf geben, bei dem sich beide Seiten immer weiter professionalisieren (müssen). Am Ende des Tages sitzen aber die RSVs am längeren Hebel, weil sie die (Tarif)Regeln bestimmen. Und wer die Regeln machen kann, kann das Spiel gar nicht verlieren.
P.S.: Dieser Beitrag wurde vom Verfasser komplett ohne KI geschrieben. Lob und Kritik bitte daher an ihn persönlich richten.