Alle sprechen von User Experience, doch was genau bedeutet das eigentlich, wie kann sie gemessen werden und welche Rolle spielt sie in der Rechtsschutzbranche? Lars Roedel und Thomas Hermenau, die UX-Experten der Deutschen Anwaltshotline, erklären, was es genau mit Usability und UX auf sich hat und wie Versicherungen ihren Kunden das nötige „Wow“-Erlebnis ermöglichen können.
Was genau versteht man unter User Experience?
Lars: Im Prinzip steht User Experience für die Erfahrung eines Kunden mit dem Produkt oder Service. Dabei geht es aber nicht nur um den direkten Kontakt damit – also die Usability – sondern auch um das ganze Davor und Danach. Auf die Rechtsschutz-Branche heruntergebrochen bedeutet das: Wie ist der Kunde an die Versicherung gekommen? Welche Versprechen wurden gemacht? Wie viel Aufwand hatte er mit der Schadensmeldung? Gab es Probleme? Wie häufig und aus welchen Gründen wurde er nach der Abwicklung noch kontaktiert?
Welche Zielabsicht verfolgt User Experience?
Thomas: Der Kunde muss sich wohlfühlen und ein positives Erlebnis haben. UX ist „human-centered“, was bedeutet, dass der Mensch und nicht der Prozess in den Mittelpunkt gestellt wird. Früher war das anders herum: Es wurde ein Prozess entwickelt und der Kunde wurde gezwungen, sich daran anzupassen – etwa dann, wenn man bei Formularen zehnmal dieselben Felder ausfüllen muss. Der Kunde kommt trotzdem an sein Ziel, aber es ist nervig. UX dreht den Spieß um und passt den Prozess an den Menschen an.
Lars: Unternehmen können eine positive User Experience dann als starke Kundenbindungs- und sogar als Akquisemaßnahme nutzen. Im Idealfall fühlt der Kunde sich nicht nur gut aufgehoben, sondern hat auch ein „Wow“-Erlebnis – und dann will er anderen davon berichten.
Ist das im Rechtsschutz möglich: Kann ein Versicherungsnehmer mit Schadenfall überhaupt ein „Wow“-Erlebnis haben?
Lars: Die Vermutung liegt nahe, dass er das nicht haben kann. Aber selbst wenn der Umstand an sich nicht gerade schön ist, können UX Professionals dafür sorgen, dass Prozesse vereinfacht, optimiert und stärker an die Zielgruppe angepasst werden. Kurz gesagt: Das ganze Drumherum muss angenehmer werden.
Thomas: Hier ein Beispiel: Ein Versicherungsnehmer erhält die Kündigung von seinem Arbeitgeber. Das ist sicherlich kein positives Erlebnis. Die Aufgabe der Versicherung ist es hier, dafür zu sorgen, dass der Kontakt einfach und angenehm ist und dass der Kunde keinen großen Aufwand hat, über den er sich am Ende noch mehr ärgern muss.
Lars: Selbst bei unangenehmen Angelegenheiten muss der Kunde danach denken: „Wow, das war ja easy!“ Kann er das Kündigungsschreiben einfach mit dem Handy fotografieren und damit alle relevanten Daten direkt per App an die Versicherung schicken, ohne erst zuhause nach seiner Versicherungsnummer suchen zu müssen, ist das sicherlich positiv für die User Experience.
Im Marketing redet man ja immer von Zielgruppen. Sind diese auch für User Experience wichtig?
Thomas: Klar, auf jeden Fall! Wer den Kunden in den Mittelpunkt stellen will, muss diesen ja auch kennen. Das eben angeführte Beispiel mit der App stellt sicherlich eine gute User Experience für Smartphone-affine Versicherte dar. Eine ältere Zielgruppe kann schon wieder ganz andere Bedürfnisse haben und käme mit Hilfe einer App vielleicht nicht zum „Wow“-Erlebnis.
Und woher weiß ich, was meine Zielgruppe will?
Thomas: Es gibt zwei Möglichkeiten, um das herauszufinden: durch User Tests und durch die sogenannte Usability-Inspektion. Bei ersterem werden Kunden selbst befragt. Dabei muss es sich aber nicht um echte Kunden handeln. Auch potenzielle Nutzer können befragt werden. Bei letzterem schauen sich Leute mit Fachwissen – das können, müssen aber nicht UX Professionals sein – den Prozess an und bewerten ihn.
Lars: Der Unterschied besteht darin, dass man bei der inspektionsbasierten Evaluation Regeln vorgibt. Beim User Test stellt man dem Kunden Aufgaben und beobachtet ihn dann bei der Nutzung. Im Idealfall ergänzen sich beide Methoden.
Bedeutet eine bessere User Experience bzw. Usability immer eine höhere Konversionsrate und anders herum?
Lars: So ganz grundsätzlich erstmal nicht. Stell dir vor, du willst eine Fahrkarte für die Bahn kaufen und der Fahrkartenautomat bringt dich an den Rand der Verzweiflung: Du klickst dich ewig durch, um das passende Ticket zu finden und dann reagiert der Touchscreen nicht richtig und du musst deine Eingabe immer wieder korrigieren. Vielleicht taucht sogar noch Werbung für andere Produkte auf. Am Ende hast du dein Ziel dennoch erreicht und hältst die Fahrkarte in Händen. Unter Umständen hast du sogar noch eine Sitzplatzreservierung dazugebucht, die du eigentlich gar nicht wolltest und über die du dich jetzt ärgerst. Die Conversion ist also trotz negativer User Experience da.
Auf Websites bezogen, bedeutet das: Selbstverständlich kannst du den Prozess umständlich gestalten und riesige Banner platzieren, die „Kauf mich!“ rufen. Trotz der schlechten User Experience kann die Konversionsrate hoch ausfallen. Wer Conversion über alles stellt, kann kurzfristig sehr erfolgreich sein.
Thomas: Aber genau da liegt die Krux. Es ist heute leichter denn je, sich nach einer negativen Erfahrung nach Alternativen umzuschauen. Kommen wir auf das Beispiel mit dem Fahrkartenautomaten zurück: Gibt es in der Nähe einen Konkurrenten, der sehr viel einfacher und komfortabler durch den Prozess führt und der nicht vom eigentlichen Ziel ablenkt, wird der Kunde beim nächsten Mal vermutlich diesen nutzen – und ihn anderen Reisenden vielleicht sogar weiterempfehlen bzw. vor dem anderen Fahrkartenautomaten warnen.
Lars: Und man muss ja bedenken: Die Anzahl an Kunden ist endlich.
Thomas: Zugespitzt gesagt: Hat man alle Kunden verprellt, kann man den Laden dicht machen.
Bleiben wir einmal bei Websites: Welche „Fehler“ ärgern euch als Usability- und User Experience-Experten am meisten?
Lars: Ich störe mich häufig daran, wenn Systeme nicht fehlertolerant sind. Ein Beispiel: Ich muss meinen Wohnort eingeben, vertippe mich und schreibe statt „Nürnberg“ fälschlicherweise „Nürnburg“. Ich erwarte von dem System, dass es dann anhand meiner Postleitzahl erkennt, dass ich in Nürnberg wohne oder mich zumindest fragt, ob ich nicht doch „Nürnberg“ meinte. Wenn das System mich nicht versteht, ist das schlechte Usability.
Thomas: Aus User Experience Sicht können viele Dinge stören. Hier kommt es ganz auf den Nutzer an. Beispielsweise kann mir einfach der Preis zu hoch sein oder das Produkt, das ich will, ist nicht verfügbar. Geht es um das Design der Website, sind wir eher im Usability-Bereich. Was mich persönlich stört, sind riesige, nichtssagende Bilder, wenn ich eigentlich nur nach Infos suche. Auch verschachtelte Menüs helfen dann nicht weiter. Ich will in dem Moment keine Inspiration, sondern habe ja schon eine Idee von dem, was ich will. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass viele Menschen gar nicht mehr den direkten Weg über die Homepage wählen, sondern einfach googlen. So landen sie mit einem Klick auf der entsprechenden Landingpage mit allen relevanten Infos, ohne sich erst mühsam durchklicken zu müssen.
Rechtsschutzversicherer haben hier das Problem, dass es grundsätzlich zwei Benutzergruppen gibt: Neukunden, die eine Versicherung abschließen wollen, und Versicherungsnehmer, die ein Rechtsproblem haben. Beide Benutzergruppen müssen eine positive User Experience beim Kontakt mit der Website haben. Im ersten Fall müssen alle relevanten Informationen einfach und direkt zu finden sein, so dass dem Kunden der Abschluss leicht fällt. Im zweiten Fall muss der Versicherer eine unkomplizierte Lösung bieten können. Das kann beispielsweise Rechtsberatung per Telefon oder Chat sein. Im Endeffekt hilft zwar der Anwalt, aber der Versicherer hat dann durch den effizienten Prozess für die positive Erfahrung gesorgt.
- Auch wenn Sie Ihr Produkt schon millionenfach verkauft haben, gilt: Das Produkt ist nie fertig. Nehmen Sie Feedback ernst, prüfen Sie es und gehen Sie auf veränderte Kundenbedürfnisse ein.
- Das Ziel Ihres Kunden ist es nicht, eine Versicherung abzuschließen, sondern rechtlich abgesichert zu sein. Der Abschluss ist nur seine Aufgabe und diese muss ihm so einfach und komfortabel wie möglich gemacht werden. Im besten Fall hat er danach ein „Wow“-Gefühl.
- Sie müssen Ihre Zielgruppe(n) kennen. Annahmen über die Bedürfnisse der Kunden reichen hier nicht. Sie sollten mit Ihren Kunden – oder zumindest mit potenziellen Kunden – sprechen.
Und woher weiß ich, ob der Kunde eine gute User Experience hatte?
Lars: Neben dem Davor und dem Danach ist bei der User Experience natürlich auch der eigentliche Kontakt mit dem Produkt oder Service wichtig. Um einen Indikator für die Qualität der User Experience zu erhalten, sollte man zunächst also die Usability messen. Hierzu gibt es drei Kernelemente: die Effektivität, die Effizienz und die Zufriedenstellung. Die Effektivität ist dann gegeben, wenn der Kunde sein gewünschtes Ziel vollständig erreicht. Die Effizienz ist gegeben, wenn der Kunde nicht viel Mühe und Zeit investieren muss, um an sein Ziel zu kommen. Hat er viel zu viel Auswahl und wird er von zu kleinen Hilfetexten abgelenkt, muss er schlicht zu viel Mühe und Zeit investieren, um sein Ziel zu erreichen. Die Effizienz ist dann negativ.
Thomas: Die Zufriedenstellung ist als drittes Kernelement die Summe aus Effektivität und Effizienz. Bei beiden muss ein Mindestmaß erfüllt sein, um für Zufriedenstellung beim Kunden zu sorgen. Und ist der Kunde mit einem Produkt, Prozess oder Service zufrieden, sagt er das weiter.
Informationen über die Interviewpartner
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Thomas Hermenau – UX Professional
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Lars Roedel – Usability und UX Experte
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