Am 01.11.2018 trat das Gesetz über Musterfeststellungsverfahren nach § 606 ZPO in Kraft. Dass das Thema äußerst brisant ist und entsprechend heiß diskutiert wird, sieht man daran, dass es auch ganz aktuell im Versicherungsforum in Köln am 7. November in Vorträgen von Herr Dr. Ulrich Eberhard, Vorstand der ROLAND Rechtsschutz, und Prof. Dr. Dominik Wendt von der Frankfurt University of Applied Sciences aufgegriffen wurde.
Informationen über den Autor
Dr. Jannis Konstas – Justiziar der Deutschen Anwaltshotline AG
Rückfragen, Feedback und Anmerkungen zum Artikel sind immer willkommen!
Schreiben Sie an jannis.konstas@deutsche-anwaltshotline.de
Auf den ersten Blick verspricht dieses neue Vehikel für die Rechtsschutzbranche das Potential für erhebliche Kosteneinsparungen: Betroffene Versicherungsnehmer können einem solchen Verfahren wie zum Beispiel bei „Dieselgate“ kostenlos beitreten und den Anspruch dem Grunde nach klären lassen. Endet das Verfahren für den VN positiv, ist es wahrscheinlich, dass er seinen Anspruch dann relativ einfach und möglicherweise sogar ohne Anwalt selbst durchsetzen kann.
Das MFV kann alternativ auch mit einem Vergleich enden, aus dem der VN nicht austritt. Dann muss der VN im Regelfall gar keinen Anspruch mehr durchsetzen.
Geht das MFV verloren, macht in der Regel auch eine individuelle Klage keinen Sinn mehr und die Deckung kann meist aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten abgelehnt werden.
Also ist ein MFV bei zukünftigen Massenschäden eine erhebliche Erleichterung für die Rechtsschutzbranche? Mitnichten! Genauer gesagt – es kommt darauf an, wie Sie den Ball spielen.
Das erste nun gestartete MFV des vzbv in Kooperation mit dem ADAC gegen VW offenbart die Fallstricke für die Rechtsschutzbranche. Die Klage für den vzbv führen wird nach einem Ausschreibungsverfahren nämlich die Kanzlei R/U/S/S/ Litigation Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, ein Zusammenschluss der Kanzleien Dr. Stoll & Sauer und Rogert & Ulbrich – beide in der RSV Branche wohlbekannt.
Für RUSS dabei – neben der medialen Aufmerksamkeit – besonders interessant: Die Kanzlei erhält Einsicht in das Prozessregister und bekommt so die Daten der angemeldeten Verbraucher. Damit hat die Kanzlei die Chance, alle angemeldeten Verbraucher zu kontaktieren und abzufragen, wer davon rechtsschutzversichert ist. Der Gedanke, diesen Verbrauchern dann die „anwaltliche individuelle Begleitung des MFV und vorsorgliche anwaltliche Durchsetzung des festgestellten Anspruchs“ anzubieten, liegt nicht fern.
Schlimmer noch: Auch die nicht-versicherten Kläger könnten von der klageführenden Kanzlei während des zwei bis drei Jahre dauernden MFV ermutigt werden, einen Rechtsschutzvertrag abzuschließen. Dies ist dann problematisch, wenn im MFV ein Rechtsverhältnis festgestellt wird, das an sich noch keinen Rechtsschutzfall beinhaltet, zum Beispiel die Wirksamkeit einer Widerrufsbelehrung. Auch im Nachgang eines aus Sicht des VN erfolgreichen MFV kann ein eintrittspflichtiger Schaden erst entstehen. Mit dem Wegfall der Vorerstreckungsklausel wird eine ablehnende Haltung des Versicherers nicht einfacher.
Die Rechtsschutzversicherer hätten kaum Möglichkeiten, dieses „Claims-Fishing“ auf höchstem Niveau zu verhindern. Das MFV spült den großen Claims-Fishern all die attraktiven Fälle frei Haus in die Kanzlei, die sie bisher im Internet nicht einfangen konnten.
Dabei kann auch die Werbung auf Google noch um Aspekte wie „Wir melden Sie kostenlos zum Musterfeststellungverfahren an!“ erweitert werden. Durch diesen „Service“ gewinnt die werbende Kanzlei (auch wenn sie nicht die klageführende Kanzlei des MFV ist) Zugriff auf ein wertvolles Mandat.
Ist der Vorgang der Anmeldung zum MFV durch einen Anwalt mit Kosten für die RSV verbunden?
Die Anmeldung selbst ist gerichtskostenfrei. Soweit ein RA schon außergerichtlich mit der Sache beschäftigt ist, dürfte die Anmeldung im Rahmen der Geschäftsgebühr aber einen gebührenerhöhenden Aspekt darstellen. Wird ein RA isoliert mit der Anmeldung beauftragt, dann fallen dafür extra Gebühren an.
Eine 0,3 Gebühr für ein einfaches Schreiben wird es nicht sein, da an die Anmeldung diverse Rechtsfolgen geknüpft sind und meines Erachtens der RA über die Rechtsfolgen aufklären muss, insbesondere wenn der Mandant über den Austritt aus einem Vergleich zu entscheiden hat. Der RA wird eine 0,5 bis 2,5 Geschäftsgebühr abrechnen. Realistisch würde ich eine Gebühr in Höhe von 0,8 sehen, da die Aufklärung und Anmeldung recht schematisch vor sich geht.
Schon die Vornahme der Anmeldung für einen Versicherungsnehmer ist also für Anwälte attraktiv! Zugleich sichert sich der Anwalt so das wertvolle Mandat für eine mögliche spätere Geltendmachung des individuellen Anspruchs.
Einen interessanten Denkanstoß brachte diesbezüglich Dr. Eberhard im Rahmen des Versicherungsforums Köln an. Er warf die Frage auf, ob für Kanzleien, die den Individualanspruch nach einem MFV durchsetzen, nicht erheblich Gebührenabschläge durch den Gesetzgeber angemessen wären, da der Anwalt ja nur noch die Anspruchshöhe, nicht aber den Anspruchsgrund feststellen lassen muss, was einen erheblichen Minderaufwand bedeutet. Das aktuelle RVG berücksichtigt eine solche Differenzierung jedoch nicht.
Es steht zu befürchten, dass Anwälte in naher Zukunft gezielt nach potentiellen MFV-Themen suchen, diese einem geeigneten Verband zuspielen und sich diesem als verfahrensführende Kanzlei andienen. Der „Schatz“ ist für diese Kanzlei nicht das Musterfeststellungsverfahren selbst, sondern der exklusive Zugriff auf die Daten der Beteiligten.
Als Themenfelder kommt alles rund um Finanzierungen, Energieversorger, Telekommunikation, Reisen & Mobilität sowie Versicherung in Betracht – eben alle Bereiche, wo es eine Vielzahl von Betroffenen geben könnte.
Laut Dr. Frank Jungermann, Richter am OLG Hamm und dort u.a. zuständig für MFV, plant alleine das Land Nordrhein-Westfalen mit 80 (!) MFV pro Jahr.
Kann die Rechtsschutzbranche auch Positives aus dem MFV ziehen?
Grundsätzlich schon. Denn das MFV selbst verursacht ja keine Kosten. Wie so oft ist der Moment der Steuerung entscheidend:
Wendet sich ein VN wegen eines MFV-Falles an seine Leistungsabteilung, so sollte diese ihm einen Netzwerkanwalt zur Durchführung der Anmeldung und zur „Begleitung durch das MFV“ empfehlen bzw. ihn direkt zu diesem steuern. Mit diesem Netzwerkanwalt sollte vorher eine Gebührenvereinbarung geschlossen werden, die auch die (außergerichtliche) Geltendmachung eines möglichen Individualanspruchs im Anschluss an das MFV umfasst. Dadurch könnte die RSV die Anwaltskosten kalkulierbar pauschalieren und der VN wäre durch die Mandatierung des Netzwerkanwalts gegen Claims-Fisher (also auch gegen die MFV-Kanzlei) „imprägniert“ – er hat dann ja schon einen Anwalt beauftragt. Zudem fühlt sich der Kunde gut versorgt und sicher aufgehoben.
Damit könnte die RSV – je nach Gebührenvereinbarung und konkreter MFV-Thematik – vielleicht mit wenigen hundert Euro pro Schaden auskommen, statt mehrerer tausend Euro wie bei den Darlehens-Widerrufsfällen. Und so würde sich für RSV der Kostenvorteil des MFV im Vergleich zu Einzelklagen tatsächlich verwirklichen. Segen statt Fluch sozusagen.
Und wie bekommt man den Kunden in eine Steuerungssituation?
Das ist die zentrale Frage bei jeder Art von Schadensteuerung. Die RSV sollten auf ihrer Homepage gut sichtbar Informationen und Lösungsmöglichkeiten für die Betroffenen von MFV-Fällen anbieten – etwa einen (in Zusammenarbeit mit einem Dienstleister oder einer Kanzlei) betriebenen „MFV-Online-Anmeldeservice“, mit dem sich ein Betroffener mit wenigen Klicks beim Bundesamt für Justiz anmelden kann. Sinnvoll ist ein so offensives Auftreten allerdings nur dann, wenn vorher auch tatsächlich ein Steuerungsweg geschaffen wurde. In Köln warf Prof. Wendt bezüglich dessen die spannende Frage auf, ob Versicherer in zukünftigen ARB die Kunden gar zu einer Teilnahme an einem MFV verpflichten könnten? Hierzu wird noch zu forschen sein.
Denkbar wäre neben dem Online-Anmeldeservice auch die kurzfristige Einrichtung einer speziellen „Hotline Musterfeststellungklage gegen ABC AG“, die eine anwaltliche Erstberatung direkt in den oben beschriebenen Steuerungsprozess überführt. Solange die Anmeldefrist zum jeweiligen MFV läuft, müsste diese Hotline gut sichtbar – in Verbindung mit einem emotional ansprechenden Bild – auf der Homepage beworben werden.
Damit ließen sich zumindest die VN steuern, die die Homepage ihrer RSV aufsuchen. Und die vielen anderen? Hier bieten mittelfristig wohl nur Steuerungstarife, App-Selbstmeldetarife oder „Vorbedingungs-Tarife“ Abhilfe, die in Kombination die Chance von Steuerungsquoten von nahezu 100% in sich tragen.
Hier finden Sie den Artikel als PDF:
Musterfeststellungsklage: Fluch oder Segen für den Rechtsschutz