Drohen in der EU und Deutschland bald amerikanische Verhältnisse mit Massenklagen, Erfolgshonoraren und rein auf den kommerziellen Erfolg ausgerichteten Kanzlei-Geschäftsmodellen? Und was würde dies für die deutsche Rechtsschutzbranche bedeuten?

Der ersten dieser beiden Fragestellungen widmet sich ausführlich eine Studie der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Die DVPW veröffentlichte im Zuge ihres 27. Wissenschaftlichen Kongresses an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main den lesenswerten Aufsatz „Per Klick zur Klage: Justizialisierung und Digitalisierung“.


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Johannes Goth  – Vorstand Deutsche Anwaltshotline AG
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So umfassend, informativ und weitblickend die DVPW-Studie auch sein mag – die politikwissenschaftlichen Autorinnen Katharina van Elten und Britta Rehder ignorieren vollumfänglich die spezielle Situation in Deutschland mit einer Haushaltsdurchdringung von Rechtsschutzverträgen mit über 40 Prozent. Berücksichtigt man diese Ausgangslage, erschließt sich die Brisanz der Aussagen der Studie für die deutsche Rechtsschutzbranche. Im Folgenden werden die Ausführungen der Studie zusammengefasst und um den Aspekt des Rechtsschutzes erweitert.

Der klassische Anwalt verliert seine Gatekeeper-Funktion

Wie einfach und wie häufig Konflikte über den Rechtsweg (und nicht durch konsensuale Streitbeilegung oder politische Hilfe) gelöst werden, hängt stark von der Rechtsmobilisierung ab. Die Rechtsmobilisierung wiederum wird beeinflusst vom „Framing“ eines Konfliktes – also in welchen Rahmen er gestellt wird. Das Framing von Verbraucherkonflikten etwa soll nach Willen der EU und des Gesetzgebers durch die Einführung der Verbraucherschlichtungsstellen kein „gerichts-juristisches“ Framing mehr haben, sondern ein konsensuales/Verbraucherschutz-Framing.

Wer bestimmt das Framing von Konflikten? Hier kam in der Vergangenheit oftmals Anwälten eine Gatekeeper-Funktion zu. Durch deren Expertise und das Wissensgefälle zum Mandanten konnten die Kanzleien festlegen, ob der Konflikt eher im Verhandlungsweg als Vergleich oder durch ein Gerichtsverfahren gelöst werden soll.

Die Rechtsmobilisierung geht also mit verschiedenen Barrieren einher. Diese Barrieren können durch die Digitalisierung mindestens gesenkt werden – oder sogar entfallen. Denn die Digitalisierung führt zu einer Komplexitätsreduktion, da wichtige Teile des Mobilisierungs- und Entscheidungsprozesses abgekürzt werden. Die Praxis belegt diese These: Flightright, myRight oder Geblitzt.de präsentieren sich leicht zugänglich auf Google und mobilisieren erfolgreich in Scharen betroffene Verbraucher.

Diese Portale stellen darüber hinaus eine extrem niedrigschwellige, sofort verfügbare und kostenlose, rechtliche Beurteilung bereit, die meist auch eine Prognose der Erfolgsaussichten vor Gericht einschließt. Die vereinfachte Erreichbarkeit und Mobilisierung von Klienten ermöglicht dadurch ein erhöhtes Klagegeschehen.

Hier liegt der zentrale Aspekt des Geschäftsmodells der digitalen Rechtsmobilisierung, jedenfalls in Bezug auf Anbieter mit kommerziellen Interessen, denn in diesem Segment des Rechtsmarktes ist die Prozessfinanzierung meist so angelegt, dass für die Mandanten kein finanzielles Risiko besteht und damit (Angst vor) Anwalts- und Gerichtskosten als Partizipationshemmnis entfallen. Ergänzend sei angemerkt: Dieses Partizipationshemmnis entfällt (außer der SB) auch bei jedem Rechtsschutzversicherten. Daher ist mit den Claims-Fishern eine Gattung von Anbietern entstanden, die genau auf die Mobilisierung von rechtsschutzversicherten Mandanten zielt.

Mit der Ablösung klassischer Rechtsberatung in Kanzleien vor Ort durch die konfrontationsorientierten Online-Angebote tritt auch die Funktion des klassischen Anwalts als Gatekeeper in den Hintergrund, Rechtskonflikte zu moderieren, Verhandlungslösungen zu erzeugen und dadurch Gerichtsverfahren zu vermeiden.

repeat player statt one-shotter

Amerikanisierung des RechtsmarktsDarüber hinaus haben Studien gezeigt, dass die Bereitschaft, Konflikte zu justizialisieren, mit dem Kontakt zum Recht bzw. zum Rechtssystem steigt. Es existiert daher eine Tendenz vom so genannten „one-shotter“ zum „repeat-player“. Mit jedem Gerichtsverfahren verdichten sich die Routinen im Umgang mit dem Rechtssystem und die Kenntnisse über Regeln, Verfahren und Abläufe. Dadurch steigt auch die Erfolgswahrscheinlichkeit. Eine Folge der Digitalisierung besteht darin, dass durch Portale, offensives Online-Marketing und personalisierte Werbung in den sozialen Medien mehr Kontaktangebote zu Rechtsanwälten oder Rechtsgeneratoren hergestellt werden, die aufgrund ihres digitalen Geschäftsmodells wiederum stärker dazu tendieren, ihre Rechtsberatung ins Gericht münden zu lassen. Die Digitalisierung hat damit das Potential, die Zahl der „repeat player“ zu vervielfachen.

Dieser Trend würde ein große Gefahr für die RSV darstellen, da die Schadenhäufigkeit stark steigen würde, ohne dass immer mehr VN, die sich dann in den Fängen der Portale befinden, jemals wieder gesteuert werden könnten.

Zudem ermöglicht die Digitalisierung nicht nur die Produktion von Klagewellen, sondern sie erleichtert den Kanzleien auch die Koordinierung des Geschehens.

Amerikanisierung des Rechts in Europa?

Erfolgsbasierte und auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete Geschäftsmodelle von Anwälten ebenso wie Sammelklagen kennen wir seit jeher aus den USA.

Die Klagebereitschaft erhöht sich dort durch den Umstand, dass im Falle einer Niederlage nicht die Kosten der Gegenseite getragen werden müssen sowie durch die Verfügbarkeit von kollektiven Klagerechten wie den Sammelklagen.

Das amerikanische System ist sehr viel stärker marktorientiert als die europäischen Rechtssysteme. Der „litigant activism“, also das aktive Initiieren von Gerichtsprozessen, wird auch deshalb von den Anwaltskanzleien, also den law firms, gestützt, weil es ihren materiellen Interessen dient. So fördern kollektive Klagerechte in Kombination mit erfolgsabhängigen Honoraren und hohen Schadensersatzsummen die aktive Suche von Kanzleien nach Klienten in einem Rechtssystem, das markt- und gewinnorientiert strukturiert ist.

Inwieweit sich diese amerikanischen Merkmale zusehends auch als genuin europäisches Phänomen im Rahmen eines „Eurolegalism“ beobachten lassen, ist laut der DVPW-Studie umstritten.

Anhand der Dieselgate-Affäre lässt sich jedoch veranschaulichen, dass eine beschleunigte Entwicklung zum Eurolegalism erkennbar ist, die von verschiedenen Kontextfaktoren beeinflusst wird. Im Zentrum stehen die skizzierten neuen Formen der Rechtsmobilisierung durch die Digitalisierung, eine auch dadurch ermöglichte stärkere Kommerzialisierung des anwaltlichen Handelns und in diesem Zusammenhang die Entstehung neuer Akteurskoalitionen zur strategischen Prozessführung. Zu den hier relevanten Akteuren gehört eine Koalition aus Legal-Tech-Rechtsdienstleistern sowie Anwaltskanzleien, die einen konfrontativen Verfahrensstil bevorzugen. Sie übernehmen damit auch in Europa die wichtige Rolle, die ihnen in den USA als Treiber des Adversarial Legalism zugewiesen ist: Ihre ökonomischen Interessen machen sie zu wesentlichen Initiatoren und Förderern von Rechtsstreitigkeiten, die in der Regel mit stärker offensiv und konfrontativ geprägten Strategien geführt werden.

Eurolegalism: Chance für den Verbraucherschutz oder Risiko des Rechtsmittelmissbrauchs?

Dies führt auch in Deutschland zu einer neuen Ausgangslage: Anwälte helfen ihren Mandanten mit vorhandenen Rechtsproblemen nicht mehr als Dienstleister bei deren Lösung – sie entdecken oder „schaffen“ die Rechtsprobleme nun selbst und akquirieren erst dann aktiv eine Vielzahl an passenden Mandanten – idealweise Mandanten, die rechtsschutzversichert sind. Das ökonomische Interesse steht in diesem Modell ganz klar im Vordergrund.

Auch das Geschäftsmodell etwa von myRight und ähnlichen Dienstleistern basiert demnach auf der systematischen Mobilisierung von potenziell Anspruchsberechtigten und der Produktion von Massenklagen oder Klagewellen. Die Vermarktlichung und Kommerzialisierung des Rechtsgeschäfts ist nicht zu bestreiten. Dienstleister, Kanzleien und Prozessfirmen treiben die Verrechtlichung von Konflikten sowie zunehmend auch die EU-Regulation voran und haben ein materielles Interesse an Massenklagen, das dazu einlädt, aktiv auch nach kleinen Regelverstößen Ausschau zu halten.

Diese Geschäftsmodelle sind auch durchaus interessant für Investoren: Gerichtsverfahren sind ein krisensicheres Geschäft und bieten konjunkturunabhängige Gewinnmöglichkeiten – vor allem dann, wenn eine Rechtsschutzversicherung die Kosten tragen muss.

In der allgemeinen Diskussion um einen Eurolegalism gehen zumindest im öffentlichen Diskurs die Bewertungen stark auseinander. Dies hängt auch damit zusammen, ob man erweiterte Klagemöglichkeiten eher als notwendigen Schritt für Verbraucherschutz interpretiert oder die Gefahren einer Kommerzialisierung und des Rechtsmittelmissbrauchs heraufziehen sieht.

Das noch junge Musterfeststellungsverfahren birgt jedenfalls eine ganz konkrete Gefahr für die deutsche Rechtsschutzbranche in sich. Denn über das MFV lassen sich massenhaft Betroffene sehr niederschwellig mobilisieren. Durch das Zugriffsrecht auf das Klageregister hat die klageführende Kanzlei (die möglicherweise auch der eigentliche Treiber des MFV sein könnte) die rechtsschutzversicherten Betroffenen zu identifizieren und zu kontaktieren. Durch parallel verlaufende Individualklagen oder mindestens durch die spätere individuelle Durchsetzung des dem Grunde nach durch das MFV festgestellten Anspruchs für den Versicherer kann die klageführende Kanzlei erhebliche Schadenaufwendungen verursachen.

Fazit der Studie: Keine Bedrohung durch Amerikanisierung – oder etwa doch?

Im Ergebnis hält die Studie eine Amerikanisierung für eher unwahrscheinlich und die Bedrohung durch eine Klageindustrie sei übertrieben. Zwar könnten die neuen Geschäftsmodelle Rechtsmittelmissbrauch fördern, sie könnten aber auch Parteien Prozesse ermöglichen, die sie sonst nicht hätten führen können. Zudem solle bei aller Warnung vor aufkommendem Kommerz nicht in Vergessenheit geraten, dass der Berufsstand der Juristen bisher auch nicht in dem Ruf gestanden habe, in seinem Wirken ausschließlich vom Altruismus durchdrungen und vom Gerechtigkeitssinn getrieben zu sein. Zwar seien erfolgsabhängige Honorare unzulässig, verhandelte Honorare aber möglich und diese haben den Juristen neben der gesetzlichen Gebührenordnung (die einen nicht geringen „Mindestlohn“ festlegt) bisher ein durchaus angemessenes Auskommen gesichert. Darüber hinaus zeige dies auch, dass vergleichbare Fehlanreize wie in den USA in Europa nicht gegeben seien. Neben vielen systemischen Unterschieden seien Erfolgshonorare, die Übernahme der Kosten der Gegenpartei und unterschiedliche Schadensersatzregelungen Faktoren, die gegen einen extensiven Rechtsmittelmissbrauch sprechen – zumal die EU in ihren Vorschlägen recht deutlich gemacht habe, dass sie Rechtsmittel zwar als Regulierungsinstrument befürwortet, sich aber ansonsten deutlich bemüht zeigt, die unvorteilhaften Elemente des Adversarial Legalisms einzuhegen.

Dieser beruhigenden Einschätzung der Autoren ist m.E. unter der Berücksichtigung der hohen Haushaltsdurchdringungsquote von Rechtsschutzverträgen in Deutschland energisch zu widersprechen. In Deutschland gibt es zwar das Risiko der Kostenübernahme durch die Gegenpartei, keine Erfolgshonorare und eine nur schwach ausgeprägte Prozessfinanzierungsbranche für Privatpersonen. Doch genau diese „Barrieren“ werden vom Konzept der Rechtsschutzversicherung beseitigt.

Sollten durch die neuen digitalen und „amerikanischen“ Geschäftsmodelle die Schadenhäufigkeit und die durchschnittlichen Schadenaufwendungen stark ansteigen, wird das jahrzehntelang erfolgreiche Geschäftsmodell der RSV auch durch die BAK-Option nicht zu retten sein.

Die Entwicklung der Schadenhäufigkeiten und der Schadenaufwendungen durch Claims-Fishing ist bereits jetzt besorgniserregend. Die ersten MFV laufen bereits, und es steht zu befürchten, dass diese eine „Zeitbombe“ für die Rechtsschutzversicherer im Kielwasser hinter sich herziehen. Kurzum: Die negativen Seiten der Amerikanisierung werden sich auch in Deutschland verwirklichen, und zwar bei den durch MFV betroffen Unternehmen – und insbesondere bei den Rechtsschutzversicherern.

Gibt es Gegenmittel?

Wie können die RSV mit dieser neuen, unerfreulichen Ausgangslage umgehen? Nun, zunächst ist anzumerken, dass die neue Lage auch mit Chancen für die RSV verbunden ist. Durch die neuen Geschäftsmodelle und die mediale Präsenz der neuen Akteure entsteht in der Bevölkerung eine verstärkte Wahrnehmung von rechtlichen Risiken. Dies dürfte die Absatzchancen für neue Policen verbessern und neue Zielgruppen ansprechbar machen.

Im Leistungsfall müssen die RSV jedoch massiv ihre Zugangsbarrieren abbauen und dem Betroffenen mindestens genauso niederschwellige Angebote zur Lösung seines Rechtsproblems machen, wie es die Online-Portale tun. Dies kann durch eine „Problemlöse-App“ und einfach zugängliche Lösungsangeboten auf der Homepage des Versicherers (z.B. Rechtsberatungs-Chat, Online-Assistenten, „Telefonberatung per Klick“) erreicht werden.

Zudem müssen auch die RSV ihr Framing verändern, indem sie sich selbst als Problemlöser positionieren. Diese Transformation des Framings ist mit erheblichem Kommunikationsaufwand verbunden.

Mittelfristig sollte das neue Framing als Problemlöser unterstützt werden durch neue Tarifgenerationen/ARB, die etwa den Vorbehalt einer Telefonberatung, Chatberatung oder einer Schlichtung enthalten oder die Installation und Nutzung einer Schadenmelde-App zur Verpflichtung machen. Durch solche „digitalen Tarife“ würde den neuen, für Rechtsschutz schädlichen Geschäftsmodellen nach und nach die Grundlage entzogen. Die RSV würden die Herrschaft über die Kundenschnittstelle behalten und könnten sich selbst als „Problemlöser“ beweisen.


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Amerikanisierung & digitale Rechtsmobilisierung: Bedrohung für das Rechtsschutz-Geschäftsmodell?

Kategorien: Rechtsschutz