2019 tut sich was im Banken- und Versicherungsmarkt. Die N26 Bank gewinnt über 10.000 Neukunden – pro Tag! Und der wie ein Versicherer auftretende Assekuradeur „Getsafe“ stellt seine App – insbesondere zur einfachen und schnellen Schadenmeldung und Schadenregulierung – erfolgreich als seinen USP dar.


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Johannes Goth – Vorstand Deutsche Anwaltshotline AG
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Jede Epoche hat ihre prägenden Kommunikations-Medien. Um die Jahrhundertwende war es noch der Brief, gefolgt vom Siegeszug des Telefons. Ab spätestens 2000 überrollte uns dann das Internet mitsamt der E-Mail. Erst seit wenigen Jahren, aber dafür mit nie gekannter Macht, hat nun das Smartphone die Rolle des absolut dominierenden Mediums eingenommen.

Durch alle gesellschaftlichen Schichten – und nunmehr auch durch alle Altersgruppen – kommunizieren die Menschen fast ausschließlich über ihr Smartphone und organisieren darüber auch immer mehr Lebensbereiche. Buchung eines Flugs, einer Zugfahrt, eines Hotelzimmers? Sofort mit dem Smartphone. Termine verwalten, Freunden Bescheid sagen, dem Handwerker ein Foto des abgebrochenen Türgriffs schicken? Sofort mit dem Smartphone. Den Weg zum Restaurant finden, Freunde über eine mögliche Verspätung informieren, das Essen nachher bewerten? Sofort mit dem Smartphone.

Verschläft die Versicherungsbranche das Mega-Medium?

Erstaunlich begrenzt sind das Angebot und die Nutzung von „Smartphone-Lösungen“ noch im Versicherungsbereich, obwohl es sich mit über 200 Milliarden Euro nicht gerade um eine Nischenbranche handelt. Und das gilt für den Vertragsabschluss wie auch für vertragsorganisatorische Angelegenheiten ebenso wie für den Schadenfall.

Es gibt zwar Early Mover wie Nexible, Lemonade oder eben Getsafe, aber ansonsten haben sich die Services vieler Versicherer bisher noch nicht wirklich auf das „Mega-Medium“ Smartphone ausgerichtet.

Natürlich verfügt jede Assekuranz über eine Homepage, die auch mobile responsive via Smartphone erreichbar ist. Aber die Interaktionsfähigkeit und die Lösungsangebote – also die tatsächliche Nutzbarkeit der „Schnittstelle Homepage“ für Kundenanliegen aller Art – lassen in der Praxis sehr zu wünschen übrig.

Das liegt insbesondere daran, dass die Homepage einer Versicherung überwiegend der Repräsentanz dient und nur in zweiter Linie der Interaktion. Zudem muss eine Versicherungshomepage wie ein Schweizer Taschenmesser über viele Funktionen verfügen. Das klingt zunächst toll – aber haben Sie schon mal versucht, mit einem Schweizer Taschenmesser einen Baum zu fällen? Viele Funktionen in einem Tool führen dazu, dass jede Funktion in ihrem Nutzen einen mäßigen Kompromiss darstellt. Aus gutem Grund hat auch der Online-Profi Google seine verschiedenen Funktionen auf verschiedene Plattformen verteilt. Denn die Google-Suche, Youtube oder Google Maps haben doch sehr unterschiedliche Funktionen und befriedigen so ganz unterschiedliche Kundenbedürfnisse.

Der Erfolg des Smartphones basiert im Wesentlichen auf dem einfachen Zugang zu fantastischen, vielfältigen, maßgeschneiderten Werkzeugen. Werkzeuge in Form von kleinen Programmen, die man ganz an seine individuellen Bedürfnisse angepasst auf sein Smartphone laden kann und fortan immer bei sich hat: die Apps. Und es stehen Millionen davon zur Auswahl.

Natürlich sind Apps auch hunderttausendfach gefloppt. „Jeder Depp hat ne App“ spottet der Volksmund. Und Unternehmens-Apps von Versicherern sind bei den Versicherungskunden nicht gerade beliebt, wie Zahlen aus dem Google Play Store zeigen:

  • Meine Allianz: 50.000+ Downloads
  • My Axa: 50.000+ Downloads
  • ERGO App: 10.000+ Downloads
  • Talanx 4U: 50+ Downloads

In Relation zu den Kunden-Beständen dieser Versicherungsgiganten sind das mikroskopische Downloadzahlen. Auch die Verbreitung von Rechtsschutz-Apps (sofern überhaupt angeboten) ist in Relation zum Branchenbestand kaum erwähnenswert.

Apps für den Fall der Fälle: Kaum genutzt und dennoch nie gelöscht

Ist die Rechtsschutz-App also nur eine Luftnummer? Erfolgreich sind Apps immer dann, wenn sie dem Nutzer bei einem definierten, abgrenzbaren Problem möglichst gut und einfach helfen. Und diesen Nutzen sehen die Versicherungskunden offenbar momentan bei den aktuell angebotenen Versicherungs-Konzern-Apps kaum.

Dabei ist es übrigens entgegen immer wieder zitierten Studien keineswegs zwingend so, dass nur solche Apps erfolgreich sind, die häufig auftretende Probleme lösen. Es gibt durchaus Beispiele für beliebte Apps, die der Nutzer selten oder nie nutzt, aber die er dennoch nie löschen würde:

  • AirHelp (Flugverspätungs-Entschädigung): 100.000+ Downloads
  • Rotkreuz-App (Wiederbelebung + Notruf mit Standort): 100.000+ Downloads
  • SOS Taschenlampe (Handy-LED blinkt SOS): 100.000+ Downloads
  • ADAC Pannenhilfe (Pannenruf mit Standort, Mitgliedsnummer): 1 Mio+ Downloads

Die Eintrittswahrscheinlichkeiten einer Flugverspätung, einer Panne, eines medizinischen Notfalls oder gar des Verlaufens im dunkeln Wald dürften statistisch recht niedrig sein und nur alle paar Jahre mal vorkommen – wenn überhaupt.

Dennoch laden sich hundertausende Menschen und Millionen Autofahrer Apps runter, von denen sie hoffen, sie nie oder höchst selten zu benötigen. Warum? Weil diese Apps den Menschen das Gefühl der Sicherheit geben, eine potenziell sehr unangenehme, überfordernde oder gar beängstigende Situation mithilfe der jeweiligen App einfach und schnell bewältigen zu können. Denn das Smartphone samt App ist jederzeit sofort greifbar.

Das Grundproblem gestaltet sich bei einer Panne, einer Flugverspätung oder als Zeuge eines medizinischen Notfalls recht ähnlich: Der Betroffene verfügt über wenig Selbstlöse-Kompetenz und alle Lösungswege ohne den direkten Zugriff auf eine App sind langwierig, umständlich und beschwerlich.

Rechtsschutz-Apps vermitteln Sicherheit

Die Ausgangslage ist bei einem Rechtsproblem durchaus ähnlich. Es tritt recht selten auf, der betroffene Laie hat selbst nur geringe juristische Kompetenz und die herkömmliche Lösung ist selbst als Rechtsschutz-Kunde beschwerlich:

  • Versicherungsnummer rauskramen (nahezu unmöglich, wenn man nicht zu Hause ist)
  • Kontaktdaten vom Vermittler oder Servicenummer suchen
  • bei seiner RSV anrufen (nur zu den Servicezeiten – sonntags, wenn man Zeit hat, geht nichts)
  • eventuell fünf Minuten in der Warteschleife hängen
  • Klärung der Deckung abwarten
  • telefonische Rechtsberatung erhalten (dort eventuell nochmal seinen VS-Nummer durchgeben müssen)
  • bei weiterem Handlungsbedarf einen Anwalt vor Ort aufsuchen (blöd, wenn man auf dem Dorf wohnt)
  • möglicherweise in einen langatmigen Prozess verwickelt werden

Mit einer Rechtsschutz-App, die auf die sofortige Lösung von Rechtsproblemen optimiert ist, kann der Nutzer sich diese ganzen Unannehmlichkeiten ersparen:

  • App öffnen
  • sich Tag und Nacht mit einem Telefonanwalt verbinden lassen (ohne dass man seine VS-Nummer suchen muss!)
  • im Hintergrund Deckung klären lassen
  • bei Bedarf Zuschaltung eines Anwalts für die außergerichtliche Falllösung via App
  • Fotografieren und Hochladen von Unterlagen
  • Verfolgen des Fall-Status
  • Kommunikation mit dem Anwalt einfach und bequem via App

Der Erfolg von Getsafe oder N26 beweist, dass gut gemachte App-Lösungen, die sich auf den tatsächlichen Kundennutzen fokussieren, von den Kunden begeistert angenommen werden. Die neuen App-Akteure gewinnen massiv Marktanteile – auch, weil diese Apps den Unternehmen volldigitale Geschäftsprozesse und damit einen massiven Kostenvorteil ermöglichen.

Bei Rechtsschutz würde sich der unmittelbare Kostenvorteil vermutlich eher durch die hohen Steuerungsquoten manifestieren, aber im zweiten Schritt wäre natürlich auch dort eine teilautomatisierte Deckungsprüfung, vollautomatisierte Schadenanlage und vollautomatisierte Zahlungsauslösung von Pauschalen einführbar. In Zeiten von Juristenmangel ein wahrer Segen.

Geduld ist eine Tugend…

Rechtsschutz-App: Heilsbringer oder Luftnummer?

Ist eine Rechtsschutz-App also der Heilsbringer? Es ist unwahrscheinlich, dass die 20 Millionen Rechtsschutzkunden sofort alle hektisch die App-Stores stürmen und dort mit schwitzenden Fingern ihre Rechtsschutz-Apps runterladen (wenn diese überhaupt mal verfügbar wären). Die Effekte solcher Apps würden sich nach deren Einführung wohl über die Zeiträume von einigen Jahren entwickeln. Die Verbreitungsgeschwindigkeit hängt unter anderem auch davon ab, ob der Versicherer seine App mit einem App-Meldetarif verbindet oder ob die App ein reines Komfort-Angebot darstellt.

Auch andere Erfolgsgeschichten haben ein wenig Zeit gebraucht, um ihre volle Wirkung zu entfalten: Selbst bei der telefonischen Rechtsberatung haben nach deren Einführung nicht sofort über Nacht die Drähte geglüht. Heute ist die Telefonberatung mit jährlich über einer Million Calls weder aus dem Serviceangebot noch aus der Kostenkalkulation der Rechtsschützer wegzudenken.

Fazit

Wie für alle Unternehmen mit Privatkunden ist es auch für den Rechtsschutz unumgänglich, seinen Platz auf den Smartphones seiner Kunden zu erobern. Das aktuell beste technische „Werkzeug“ dafür sind Apps, die auf die Lösung tatsächlicher Kundenprobleme optimiert sind – im Fall von Rechtsschutz ist das eben die sofortige, schnelle und einfache Lösung von Rechtsproblemen.

Der Erfolg der Apps von neuen Playern wie Getsafe oder N26 zeigt, dass dieser Weg funktioniert und dass die Zeit reif dafür ist.
 
 
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Rechtsschutz-Apps: Heilsbringer oder Luftnummer?